2030 - Chimaerenblut
Verdacht auf sie, als halber Fisch müsse sie doch stinken. Es war zwecklos zu erklären, dass frischer Fisch nicht riecht. Josi duschte dreimal am Tag, und der Waschzwang ließ ihre Neurodermitis aufblühen. Doch sie schrubbte weiter, bis die Haut blutig war. Selbst der Schülersprecher machte abfällige Bemerkungen – nicht Fleisch, nicht Fisch – und traf sie damit bis ins Mark. Ihr fehlte damals der Biss, sich aufzulehnen. Heute würde sie seine Schwachstellen recherchieren und bei Facebook 03 veröffentlichen – aber inzwischen war er ihr scheißegal, oder wie Josi zu sagen pflegte, »der Pups Homo sapiens ist mir schnuppe-schuppe«.
Josi blickte sich ein letztes Mal in ihrem Zimmer um. Die Polizei hatte das alte Bravo-Poster einer nackt vor Hunden und Katzen posierenden Tierschutzgruppe von der Wand gerissen. Als Beweismittel. Was für Idioten. Ein Fetzen Papier war kleben geblieben. Josi zupfte die Reste vom Poster ab und schnippte sie in den Papierkorb.
Eine Stunde später war Josi mit ihrem Vater am Flughafen. Kathi hatte sich von ihrer Nachbarin Lilly bringen lassen. Bei Kathi zweifelte Josi noch mehr, ob sie jemals zurückkehren würde. Die Katzen-Chimäre passte einfach nicht nach Berlin. »Zu wenig Katzen hier«, sagte sie manchmal und sah sich mit verlorenem Blick um, vor allem wenn breitschultrige Hunde-Chimären mit Ketten an Hals und Armen grinsend vor ihr standen und riefen, sie wollten doch nur spielen. Die kleine Kathi hauchte dann ihre Krallen an, rief erhobenen Hauptes, »ich auch«, und war meist mit einem Satz über die nächstgelegene Mauer gesprungen. Die trägen Doggys , die sich vor allem durch Übergewicht auszeichneten, hatten dabei das Nachsehen.
Am Flughafen gaben Josi und Kathi ihre Koffer auf und suchten sich ein französisches Bistro.
»Kann man hier auch Fliegen? Oder nur Shoppen und Futtern?« scherzte Lilly, die zum ersten Mal in ihrem Leben einen Flughafen von innen sah.
Kathi lachte.
Josi war zum Heulen.
Thomas Garden spendierte Frühstück. Er sah von Kathi zu Lilly und zurück. Lilly war halbseitig vom Haaransatz bis zum Hals kunstvoll mit Tigerstreifen tätowiert. Ihre silbernen Fingernägel waren so lang, dass sie kaum das Croissant halten konnte.
»Sind Sie auch eine Katzen-Chimäre«, fragte Josis Vater und rührte im Kaffee.
Lilly warf lachend den Kopf in den Nacken. »Herr Garden, sehen Sie den Unterschied nicht?«
Kathi hob eine Hand. »Ist Ihnen das noch nie aufgefallen? Meine Krallen sind echt, im Gegensatz zu Lillys Kunstnägeln!«
Irritiert starrte er auf Kathis Finger.
Sie zog die schwarz lackierten Nägel ein und schob sie blitzschnell wieder hervor, so dass sie wie kleine Dolche abstanden. »Ich habe die Krallen einer echten Katze.«
Garden räusperte sich. »Silberne Nägel finde ich aber, wenn ich meine Meinung dazu überhaupt kundtun darf, irgendwie… freundlicher als schwarze.«
»Ja, das da ist cool und momentan ziemlich angesagt.« Kathi nickte Lilly anerkennend zu.
Lilly lächelte amüsiert. »Herr Garden, aus einem Date wird trotzdem nichts.«
Josi starrte in ihre Tasse, während Kathi und Lilly plauderten. Ihr Vater schwieg bis zum Boarding-Aufruf.
Auf dem Weg zum Gate ersparte er sich ermahnende Sätze, wofür Josi ihm wirklich dankbar war.
Und als sie am Eingang zu den Passkontrollen standen, schienen ihm – dem wortgewandten Journalisten – endgültig die Worte zu fehlen. Er nahm Josi schweigend in die Arme, streichelte ihr übers Haar und drückte sie noch einmal ganz fest. Sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht in Tränen auszubrechen, und sie wusste, dass es hauptsächlich wegen Leon war.
Erst als die Maschine abgehoben hatte, durchbrach Kathi das Schweigen. »Wirst du nach deiner Au-pair-Zeit in Chicago studieren?«
Josi überlegte, was sie antworten sollte. Sie konnte darauf vertrauen, einen Studienplatz zu bekommen. Ihr Vater war zwar nicht vermögend, aber die Studiengebühren konnte er sich leisten. Ja, vielleicht bliebe sie in Chicago. Vor ihrer verwaisten und mittellosen Freundin wollte sie dennoch nicht protzen.
»Die Uni von Chicago ist im Bereich der Rechtswissenschaften überaus angesehen«, antwortete Josi ausweichend. »Der erste schwarze Präsident hat schon dort gelehrt. Auch Paps hat ein Auslandssemester in Chicago absolviert. Obama wird dort heute noch verehrt. Der hat Geschichte geschrieben. Die Menschen waren mächtig stolz auf ihn.«
»Seit wann willst du Recht studieren? Seit du
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