2030 - Chimaerenblut
dir mal eine Tour.«
»Vielleicht. Ich überleg es mir«, sagte Josi so desinteressiert wie möglich. Der Angeber sollte nicht glauben, er könnte sie mit den Besitztümern seines Vaters beeindrucken.
Schließlich führte Ethan Josi in die Küche im Parterre und murmelte, er habe noch eine Verabredung. Dann war er verschwunden.
Die Köchin Anne fragte Josi nach ihren Essensvorlieben. Sie schnitt Gemüse in Juliennestreifen und ließ Sesamöl in der Pfanne heiß werden. »Wirklich keine Shrimps?«, fragte sie bedauernd.
»Nein, wirklich nicht.«
»Wir haben ein kleines und ein großes Esszimmer. Ich geh vor.«
Josi setzte sich an den zugewiesenen Platz und stocherte mit dem Silberbesteck im Gemüse. Sie fühlte sich wie ein Gast in einem leeren Restaurant.
»Haben Sie schon Judy kennengelernt?«, fragte Anne, die neben ihr stehen geblieben war.
»Nein, wer ist Judy?«
»Sie bringt Getränke an den Tisch und trägt Zettel in die Küche, wenn die Herrschaften noch etwas wünschen.«
»Warum gehen sie nicht selbst in die Küche?«
»Das gehört sich nicht. Niemand steht bei Tisch auf und läuft einfach weg.«
Was habe ich bloß getan, dass ich mich hierauf einließ?, dachte Josi. Es war ein Fehler, ein riesengroßer Fehler, nach Chicago zu gehen.
13
Donnerstag, 9. Mai, Berlin:
Der Anruf kam früher als erwartet. Doktor Marcus Mill schloss die Bürotür aus Milchglas hinter sich und schaltete die Telefonanlage auf Laut.
»Wir können reden«, sagte er und lächelte.
Mit Schwung drehte er sich in dem weißen Ledersessel, bis er sein exklusiv designtes Büro mit den weißen Lackmöbeln überblicken konnte. Auf dem Schreibtisch standen drei golden gerahmte Fotos seiner Familie: Auf der weichgezeichneten Studioaufnahme posierte seine Frau, ihre langen blonden Haare fielen über die nackte Schulter. Ein Urlaubsfoto zeigte sie mit den beiden Jungs beim Bau einer Sandburg. Auf dem dritten Foto stand sie in hochgekrempelten Jeans mit ihrer halbwüchsigen Tochter Josi aus erster Ehe in den Wellen der Ostsee.
Der Anrufer am anderen Ende der Leitung räusperte sich. »Gesundheitsminister Han Müller lässt ausrichten, wir können momentan noch keine Entscheidung über den vakanten Posten im gutachterlichen Beirat für Genmedikamente in der Chimärenforschung fällen.«
Marcus Mill vergaß zu lächeln. »Mir ist bewusst, solche Entscheidungen werden nicht von heute auf morgen gefällt, deshalb wollte ich auch in einem persönlichen Gespräch…«
»Sie verstehen das falsch. Es geht nicht um die Zeitschiene. Wir haben ein anderes Problem.«
»Wie kann ich Ihnen dabei behilflich sein?«
»Doktor Mill, wir müssen sie leider bitten, zunächst Ihre familiären Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, bevor wir unsere Zusammenarbeit weiter vertiefen können.«
»Wie meinen Sie das?«
»Doktor Mill, es geht hier nicht um Ihr brillantes medizinisches Fachwissen. Aber Sie werden sicher verstehen, dass wir es uns in der heutigen Zeit nicht erlauben können, unsere Beiräte aus einem Kontext zu wählen, der mit Aktivisten sympathisiert, die eindeutig gegen uns sind.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« Nervös griff Marcus Mill sich ins dichte braune Haar.
»Josefine Garden ist doch Ihre Tochter?!«
»Die Tochter meiner Frau aus erster Ehe«, antwortete Marcus Mill vorsichtig und fragte sich, ob der Sekretär auf den Einbruch anspielte.
»Momentan sehen wir uns mit unbewiesenen Vorwürfen der FlashAC -Aktivisten zu illegalen Chimären-Versuchen konfrontiert. Sie wissen sicher worum es geht.«
Marcus Mill hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach und presste ein »Nein« hervor.
»Solange nicht klar ist, welche Rolle Ihre Tochter in dieser Angelegenheit spielt, müssen wir etwas Gras über die Sache wachsen lassen. Wir kommen zu gegebener Zeit wieder auf Sie zu.«
Marcus Mill hörte das Freizeichen, bevor er antworten konnte.
14
Freitag, 10. Mai, Chicago:
Josi betrat am Morgen zusammen mit Ethan das große Esszimmer der Hildens und war sprachlos. Dieser Raum hatte die Größe eines Ballsaales. Der Refektoriumstisch in der Mitte bot zwei Baseballmannschaften inklusive Ersatzspielern Platz. Ethans Vater saß rechts am Kopfende. Ein Mann in den Vierzigern mit grauen Schläfen. Er erhob sich.
Ethans Mutter saß am anderen Kopfende. Sie stellte die Kaffeetasse auf die goldene Untertasse, fuhr sich mit den Fingerspitzen durch die blondierten Haare und sah Josi erwartungsvoll an.
»Meine Mutter!«, hörte sie Ethan
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