2033 - Tod im Türkisozean
Blätter und Trieblinge aus und waren stellenweise so miteinander verwachsen, daß sie kaum noch von den oberirdischen, meterdicken Strängen und Wurzelwucherungen Paumyrs zu unterscheiden waren.
Wo fängt Paumyr an, und wo hört sie auf? dachte Jamaske.
Sie hatte eine Blaubohnen-Plantage ausgemacht, in der die Schäden des katastrophalen Sturms, der ihr Leben als Fischerin so jäh beendet hatte, noch immer nicht beseitigt waren.
Die Stauden waren stellenweise entwurzelt und niedergedrückt, und jetzt, da sie darauf aufmerksam geworden war, bemerkte Jamaske auch andere Felder, in denen der Sturm gewütet und eine Spur der Verwüstung hinterlassen hatte.
Jamaske wandte sich ab. Sie blickte aufs Meer hinaus und sah den zwei winzigen weißen Doppelrumpfbooten nach, die eben zu einer Fangfahrt ausliefen.
Seit ihrem Tod hatte Jamaske die Hafengrotten und Ruhekavernen der Fischer nicht mehr besucht. Es war nicht verboten, Kontakt zu Freunden und Bekannten aus einem alten Leben zu haben, aber Jamaske empfand eine unerklärliche Scheu davor.
Sie dachte an Ingray und Sarugrin, auch an den schweigsamen Henno und an ihren „Lieblingsfeind" Borphin. Hatte einer von ihnen das Unglück überlebt? Wahrscheinlich nicht.
Und wo waren sie jetzt? Waren sie als Fischer wiedergeboren worden - wie es ja meist geschah? Daß eine Rautak, so wie sie, in einem anderen Stand wiedergeboren wurde, entsprach keineswegs der Regel - war aber auch nicht so selten, daß Jamaske allein schon dadurch zum Sonderfall geworden wäre. Vielleicht waren ihre alten Fischergefährten sogar wieder gemeinsam in einer Fanggruppe und saßen jetzt alle in einem der auslaufenden Boote.
Wer würde Jamaskes Platz im Heck über dem Schwanzruder einnehmen? Ein Pflanzer, der als Fischer wiedergeboren worden war?
Die Schreischwalben kreisten tiefer und schraubten sich in einer weitläufigen Spirale den Wellen des Türkisozeans entgegen. Ihr entschwindendes Gekrächze zog Jamaskes Gedanken mit Macht hinunter - hinunter zu den Hafengrotten und Ruhekavernen.
Und zu Latruiz, dem Paumyr-Sprecher, ihrem Traum-Geliebten, der lebendig geworden war - und den sie dennoch nicht erreichen konnte.
Zu den Höhlen der Unterweisung tief im Inneren Paumyrs hatte Jamaske keinen Zugang, und in den Gemeinschaftshöhlen, die sie, von einer geheimen Hoffnung getrieben, immer wieder aufsuchte, tauchte der Mann ihrer Träume - der so reale Mann ihrer Träume - nicht auf. Nach den spärlichen Informationen, die sie von Muschelmeister Klindo und von Losdui über die Wissenden erhalten hatte, waren die Paumyr-Sprecher angehalten, ihren Kontakt zu Pflanzern und Fischern auf das Wesentliche zu beschränken.
Und das Wesentliche waren ihre seltenen Vortrage aus den „Legenden aus dem Herzen", dem „Periodenbuch" und den anderen Memorabilien der Alten, die sie in den Höhlen der Unterweisung, nahe an Paumyrs Herz, hüteten.
Freundschaften gehörten nicht zum Wesentlichen. Und eine Liebesbeziehung schon gar nicht.
Die war sogar strikt verboten.
Abgesehen davon: Hatte ihr Latruiz bei ihrer einzigen und viel zu kurzen Begegnung etwa Grund zu Hoffnungen gegeben? Nein, im Gegenteil. Er hatte ihr ihre Traumperle weggenommen und hätte ihr nicht einmal seinen Namen gesagt, wenn sie ihn nicht darum gebeten hätte. Real oder nicht real: Latruiz blieb ein unerfüllter Traum.
Das kristallklare Zwitschern eines Akinoms - eines Türkisvögelchens - riß Jamaske aus ihren trüben Gedanken. Der Akinom hatte sich auf einem Siebenstrauch niedergelassen und stimmte aus voller Kehle eine für seinen winzigen Körper überraschend volltönend klingende, langgezogene Melodie an. Der kleine, kolibriartige Vogel glitzerte und funkelte am ganzen Körper, als ob sein Gefieder aus Perlen gemacht wäre.
Und wie aus Perlen war auch sein Gesang, an dem Jamaske - Ton für Ton, Perle für Perle - aus dem düsteren Seelenloch emporkletterte, in das sie gefallen war. „Danke, Türkisvögelchen!" sagte Jamaske und stand entschlossen von der nach innen gewölbten Wurzelknolle auf, in der sie sich niedergelassen hatte. „Du hast mir sehr geholfen!"
Der Akinom guckte sie aus zwei schwarzen Knopfaugen fragend an, schüttelte sein farbenprächtiges Gefieder und flatterte zwitschernd in die helle Weite des Silberschirms davon. Jamaske machte sich wieder an den Abstieg, und während sie behende über Paumyrs mächtige Wurzeln kletterte, kreiste die heitere Melodie des Türkisvögelchens unablässig in ihrem Kopf und
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