206 - Unterirdisch
Arah, die in ihren Karten blätterte. »Nach links!«, befahl sie Spenza.
Der Woormführer lenkte sein Tier in einen breiten Gang.
Ein eisiger Luftzug drang aus den Spalten in den zerklüfteten Felswänden. Die Flamme von Spenzas Fackel flackerte. Hinter sich hörte er die scharrenden Schritte der Enkaari. Es schien ewig zu dauern, bis der Gang in die nächste Höhle mündete.
Ächzend wälzte sich der Maelwoorm über eine Steinschwelle in ein saalartiges Gewölbe. Von hier aus verzweigten sich unzählige kleine und große Wege in das Stollensystem.
Staunend schaute Spenza sich um. Ockerfarbene Fäden hingen wie kleine Lianen von der Decke, keine Armlänge vom Kopf des Woormführers entfernt. An den Wänden hafteten zarte Gebilde. Sie glichen aneinander gereihten Spinnennestern. In manchen Nischen waren sie so dicht zusammengewachsen, dass sie aussahen wie helle Beutel oder Efrantenblasen. Der Boden war überwuchert mit hellbraunen und grauen Fasern. Sie verschluckten die Schritte der eintretenden Enkaari.
Während die Männer und Frauen sich ehrfurchtsvoll in dem Gewölbe verteilten, studierte Arah aufs Neue ihre Karten.
Spenza nutzte die Zeit und untersuchte die Decke über sich. Er fuhr mit seinem Stab durch die herabhängenden Fäden. Wie dünne Würmer schlangen sie sich um das Holz.
Spenza riss seinen Stab zurück. Unter ihm wurde der Woorm unruhig. Ein Schaudern schien durch seinen Leib zu gehen. Sein Kopf strich zur Seite und ein schnaufendes Blasen entwich seinem Maul. Spenza beachtete ihn nicht. Verwundert stierte er zur Decke. Diese Fäden lebten!
Waren es eigenständige Organismen oder gehörten sie zu einem System? Spenza wollte das herausfinden. Er legte den Stab auf dem Rücken des Maelwoorms ab und griff in den faserigen Vorhang hinein. Blitzschnell umschlangen die Fasern seine Hand. Und dabei beließen sie es nicht: Ihre spitzen Enden durchbohrten seine Haut!
Spenza schrie auf. Er warf seine Fackel weg und versuchte sich mit der anderen Hand von den gefräßigen Schlingen zu befreien. Doch vergeblich! Schneller als er einmal aus- und einatmen konnte, war auch die andere Hand zur Beute geworden. Hilflos hing der Woormführer mit seinen Händen an der Decke fest. Mit jedem Stoß, den die Fäden tiefer in seine Haut drangen, vernebelte sich sein Verstand. Eine Abfolge wirrer Bilder jagte durch sein Hirn: Er sah Menschenhorden aus dem Gewölbe fliehen. Von draußen schlug etwas gegen den Felsen. Ein ohrenbetäubender Knall tobte durch die Höhle. Es klang, als ob der Berg explodieren würde. Dann wurde es still. Die Höhlenwände schimmerten feucht. An manchen Stellen pulsierten die Steine.
Spenza kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, sah er, dass es nicht die Steine waren, die da pulsierten, sondern eine organische Masse. Pilze!, schoss es ihm durch den Kopf.
Woher wusste er das? Er konnte es nicht sagen, er wusste es einfach.
Plötzlich riss ihn ein unsichtbarer Sog aus dem Gewölbe.
Mit einer höllischen Geschwindigkeit schien Spenza durch Raum und Zeit zu sausen. Er durchquerte Hunderte von Höhlensystemen. Überall wucherte der Pilz. Schmatzend und zischend schien er mit seinen Fäden nach ihm greifen zu wollen. Aber wie ein Windhauch fuhr Spenzas Geist durch ihn hindurch. Und dann sah er sie: Millionen Kadaver von Menschen und Tieren. Ausgeschlürfte Hüllen oder zermalmte Körperteile steckten in der wabernden Masse des Pilzes.
Übelkeit wallte in Spenza auf. Er glaubte den Verstand zu verlieren, als er erkannte, dass diese pflanzlichen Monster sich von den Leichen ernährten.
Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Unter ihm brüllte der Woorm. Spenzas Hände lösten sich von der Decke, als das Tier sich umdrehte und aus dem Gewölbe flüchtete. Die Steigbügel umklammerten die Füße des Woormführer wie Ankerhaken und rissen ihn mit.
Spenza starrte auf seine Hände. Sie waren übersät mit unzähligen kleinen Wunden, die die Fäden auf der Haut hinterlassen hatten. Aber er spürte den brennenden Schmerz kaum noch. Mühsam warf er einen Blick in das Gewölbe hinter sich – und erstarrte.
Vier Maelwoorms, die nicht zum Dorf gehörten, hatten die Enkaari in die Mitte der Höhle getrieben. Wo kamen die Tiere her? Lebten sie hier unten, zwischen den Pilzwucherungen?
Männer und Frauen schlugen mit Fackeln und Waffen auf die Tiere ein, doch vergeblich! Ein Woorm bäumte sich auf. Sein geöffnetes Maul stieß auf die Angreifer herab. Spenza keuchte, als er
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