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207 - Weg eines Gottes

207 - Weg eines Gottes

Titel: 207 - Weg eines Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Schwarz
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allesamt ein gesteigert aggressives Verhalten zeigten. Bisher hatte er sich streng an das Verbot gehalten. Aber nun drängte es ihn zum Spalt. Mit klopfendem Herzen trat er an den Rand. Dann ging er auf die Knie, beugte den Oberkörper vor und spähte hinein. Zerklüftete Felswände, die nahezu senkrecht abfielen, verloren sich in unauslotbarer Tiefe.
    Wie lange würde ich wohl fallen, wenn ich da hineinstürze?, dachte Habib und schüttelte sich bei dem Gedanken. Er erhob sich wieder und drehte sich um. »Mama!«, rief er mit hoher, schriller Stimme. »Komm schnell. Da… da ist was!«
    Medior erhob sich. »Habib! Wo bist du?«
    »Am Spalt, Mama!«
    Medior erschrak. Sie sprang auf, schaute sich hektisch um und entdeckte ihren Sohn schließlich. Er stand gut vierzig Meter weg direkt am Abgrund und winkte herüber. Sie rannte zu ihm.
    »Was tust du hier?«, keuchte sie. »Wir haben dir doch verboten…«
    »Mama, da… da drin ist was Seltsames.« Er sah sie aus großen Augen an. Sie bemerkte trotz des Zwielichts die Gänsehaut auf seinem Gesicht.
    Medior lief es eiskalt über den Rücken. »Wo ist es?«
    Habib drehte sich um. »Da unten, Mama. Direkt hier. Was ist das?«
    Die Senegalesin schluckte. Zögernd trat sie an die Kante. »Wo?«
    »Na, hier.« Der Drang in Habib wurde übermächtig. Er nahm kurz Anlauf. Mit voller Wucht prallte er gegen seine Mutter.
    Medior ächzte. Sie verlor das Gleichgewicht, sah ihren Sohn aus großen, erstaunten Augen an, taumelte und riss die Arme in die Luft, als sie über die Kante trat. Schreiend verschwand sie im Abgrund. Mit unbewegtem Gesicht beobachtete Habib, wie sie mit den Armen ruderte, sich zwei Mal überschlug und gegen einen Felsvorsprung knallte. Dadurch wurde sie weiter in die Mitte katapultiert. Dann hatte die Finsternis seine Mutter verschluckt. Ihr Schrei, der sich vielfach an den Felsen brach, verstummte abrupt. Die schroffen Steine ließen ihn nur noch ein klein wenig nachhallen.
    Habib kam zu sich. »Mamaaaaaaa! Neiiiiin!«
     
    (Es war die einzig mögliche Option. Du hast richtig gehandelt, Mul’hal’waak.
    (Natürlich. Nun können uns die Biotischen Einheiten Mooris’pulajn und Haa’beeb nach Nordosten zum Wandler bringen. Übrigens, dieses Gefühl, das sie Trauer nennen, ist ebenfalls viel zu stark ausgebildet und damit völlig irrational. Zum ersten haben sie ihr eigenes Leben behalten. Anstatt dies in den Vordergrund zu stellen, betrauern sie denjenigen, der neutralisiert wurde. Zum zweiten lähmt sie das Trauergefühl und macht sie völlig antriebslos. Damit werden sie zur leichten Beute für jede Art von jagenden Biotischen Einheiten.)
    (Es wäre nutzbringend, diese Gefühle auszuschalten. Wie weit bist du mit deinen Versuchen, doch eine der Biotischen Einheiten übernehmen zu können?)
    (Momentan ist es mir nicht möglich. In ihrem überaus komplexen und verwirrenden System verliert sich mein Geist vollkommen. Ich muss dieses Gefüge erst begreifen, bevor ich mich darin zurecht finden kann. Dazu sind viele Studien nötig. Vielleicht gelingt es mir, im rein rationalen Sektor ihres Gehirns etwas länger zu verweilen und die Biotische Einheit Mooris’pulajn von dieser Seite her zu übernehmen.)
    (Ich verstehe. Vielleicht kann uns unsere außergewöhnliche Situation dabei helfen. Wenn dir meine ontologisch-mentale Substanz als Anker dient, kannst du dich in den rationalen Sektor der Biotischen Einheit vorwagen, ohne zu riskieren, dich darin zu verlieren. Wenn es gefährlich wird, hole ich dich wieder zurück.)
    (Das ist ein guter Vorschlag. Wir werden es versuchen.)
    ***
    Algerische Sahara, 20. Februar bis 17. März 2012
    Maurice Poulain weinte viele Stunden lang. Er machte sich bittere Vorwürfe, dass er seine Familie allein gelassen hatte. Sein Sohn konnte ihm nicht sagen, warum Medior plötzlich zum Spalt gegangen war und sich zu weit über die Kante gebeugt hatte. Es würde ein ewiges Geheimnis bleiben.
    Am liebsten wäre der Franzose an Ort und Stelle ebenfalls gestorben, aber das ließ seine Verantwortung gegenüber Habib nicht zu. Und dieses drängende Gefühl, nach Osten weiterziehen zu müssen. Gegen Abend wurde es so stark, dass Poulain beschloss, die Nacht durchzufahren.
    »Ja, Papa, das machen wir«, stimmte ihm Habib zu. Er wischte sich eine Träne von der Wange. »Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«
    »Wenn du willst.«
    »Also gut. Weißt du, ich glaube, dass Mama gar nicht wirklich tot ist. Sie hat eben mit mir gesprochen und gesagt,

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