210 - Unter dem Vulkan
vorausgesagt hat.« Er schnalzte mit der Zunge.
»Wann hat er es prophezeit?«, fragte Matt.
»Vor dreißig Jahren.« Noah grinste. »Da war er zehn, glaube ich.«
Matt nickte. Er hatte es vermutet. Wäre der Vulkan nicht ausgebrochen, hätte kein Mensch mehr an die Prophezeiung gedacht.
»Seit dem Ausbruch, der den Propheten und seine Anhänger verschont hat, setzt er verstärkt auf die Kräfte der Religion«, fuhr Noah fort. »Sie gibt ihm die Möglichkeit, den Hass jener, die der Kaiser entmachtet hat, gegen seine Herrschaft zu lenken.«
Logisch, dachte Matt. Löst ein neues System ein altes ab, verlieren Scharen von Wichtigmännern ihre Privilegien. Dann wurden schnell Urteile gefällt: Früher war alles besser. Wer die Wut der Entmachteten zu kanalisieren verstand, konnte leicht ein Heer hinter sich sammeln.
Die Getreuen des Propheten waren vermutlich mehrheitlich Leidtragende der kaiserlichen Reformen – und Menschen, die sich einen gesellschaftlichen Aufstieg erhofften, wenn sie jenen halfen, die ihre Privilegien zurückerobern wollten. Schon zu Cäsars Zeiten hatten sich Provinzfürsten von einer Zentralregierung nichts sagen lassen. Im 21. Jahrhundert hatten sich sogar pakistanische Diktatoren die Zähne an jenen ausgebissen, die außer dem Koran nie ein Buch gelesen hatten.
»Da der Vulkangott ihn verschont hat, sieht er sich bemüßigt, in seinem Namen gewisse Forderungen zu stellen.«
»Betet mich an, ich bin der einzige und leibhaftige Gott?«
Noah zuckte zusammen. »O nein, so anmaßend würde er nie agieren. Nein, nein; aber er verbreitet die Ansicht, dass der weiße Kaiser entmachtet werden soll.«
»Weil er weiß ist?«
Noah zuckte die Achseln. »Es gibt Menschen, die nicht wissen, warum die alte Zivilisation untergegangen ist. Wer Weit vom Schuss war, hat nie etwas von dem Kometen erfahren. Halb Afrika glaubt, dass die Weißen einen Atomkrieg geführt und den nuklearen Winter ausgelöst haben. Wer Stimmung gegen sie macht, kann hier und da durchaus mit Beifall rechnen.«
»Ist Maitre Magnan ein Bandit?«
Noah lächelte. »Die Lava hat sein Reich nicht nur verschont, sie hat auch keinen seiner Anhänger getötet! Wie kann ein solcher Mensch ein Bandit sein? Was ihm widerfahren ist, kann nur ein Zeichen dafür sein, dass Ghu es gut mit ihm meint.«
»Ghu?«, fragte Matt.
»Ein Platzhalter.« Noah schmunzelte. »Für den Fall, dass es doch einen gibt.« Er deutete zwinkernd nach oben.
Matt lachte. Noah wurde ihm sympathisch. Dass er im Dienst eines Volksverdummers stand, konnte man ihm nicht verübeln: Commander Drax selbst hatte am Anfang des 21.
Jahrhunderts in vergleichbaren Diensten gestanden.
Kurz darauf saßen sie auf, und Jossele und die Karawane setzten sich in Bewegung. Der Pfad wurde breiter, die Sicht in den Dschungel zu beiden Seiten besser.
Die beiden Gefährte knarzten hinter ihnen her. Die Arachniden legten sich ins Zeug. Die Begleiter unterhielten sich leise, dann schienen sie etwas auszulosen, denn sie schwenkten die Hände und zeigten sich diverse Finger. Ein Reiter nickte, stupste seinem Kamshaa die Fersen in die Seiten und galoppierte an Noah und Matt vorbei.
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Noah.
»Was ist nicht mehr weit?«
»Der Landeplatz.« Noah deutete in die Richtung, in die der Reiter verschwunden war. »Maitre Magnan landet nicht gern in der Nähe der Wolkenstadt dieser merkwürdigen Dame. Beide möchten nicht gern miteinander in Zusammenhang gebracht werden.«
»Aus religiösen Gründen?«
Noah kicherte.
»Was ist dieser Prophet eigentlich für ein Mensch?«, fragte Matt. »Wo kommt er her? Auf welchen Traditionen fußt seine«, – er hüstelte –, »Religion?«
»Wenn ich es nur wüsste.« Noah schaute zum Himmel auf.
»Seine Macht basiert ganz sicher nicht auf einer Religion, die es schon vor der Eiszeit gab.« Er zuckte die Achseln. »Ich glaube, die haben mehrheitlich ausgedient. Rein äußerlich ist er eine angenehme Erscheinung. Jovial. Liebenswürdig. Gebildet. Er redet etwas gestelzt, aber… er ist sicher kein Sektierer, auch wenn er auf gewisse Elemente des Machismo schwört.«
»Wie die Zwangsehe?«
»Er hat mehr als zwei Dutzend Frauen, aber bisher ist meines Wissens noch keine laufen gegangen.«
»Geteiltes Leid ist ein achtundzwanzigstel Leid«, sagte Matt. »Ich schätze, die meisten Menschen könnten damit ganz gut leben, solange sie ein Dach über dem Kopf haben und drei Mahlzeiten am Tag kriegen.«
»Ich nehme an, sie
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