2112 - Verschollen in Tradom
erlebt, aber vom ersten Augenblick an verspürte ich eine innige Vertrautheit mit Ascarde, so als würde ich sie nicht erst seit wenigen Minuten, sondern seit Jahren kennen.
Während die renhazsche Philosophin von entpersonifizierten Erzählern und neutralen Vermittlungsinstanzen berichtete, von mimetischfiktionalen und diegetischfiktionalen Erzählweisen, erzählten wir uns von unseren Völkern und aus unserem Leben.
Ascarde erkundigte sich nach meinem Brustgesicht. Also erklärte ich ihr, was es damit auf sich hatte.
„Wir Pombaren sind eingeschlechtlich", sagte ich, „und das faustgroße Gesicht auf unserer Brust hat etwas mit unserer Fortpflanzung zu tun."
„Es ist eine Kopie deines Gesichts", stellte Ascarde fest, „und mir ist aufgefallen, dass es entweder die Mimik deines eigentlichen Gesichts vollständig nachvollzieht oder aber dein Gesicht ausdruckslos bleibt und nur das Brustgesicht eine Regung zeigt... Aber der kleine Körper unterhalb des Brustgesichts ist nicht beweglich, oder? Er ist vollständig mit dem Hauptkörper verwachsen ..." Die Kara hielt inne. „Verzeih mir bitte! Vielleicht ist es dir unangenehm, darüber zu sprechen. Viele Völker Tradoms unterliegen einem Tabu, wenn es um ihre Fortpflanzung und die damit zusammenhängenden Riten und Gebräuche geht..."
„Oh nein", erwiderte ich, „es ist mir nicht peinlich. Wie gesagt, wir Pombaren sind eingeschlechtlich. Immer wenn sich Angehörige unserer Spezies berühren, kommt es zu einem Austausch genetischen Materials. Auf diese Weise nehmen wir fremde genetische Bestandteile auf, die von speziellen Rezeptoren in den Brustkörper transportiert werden. Das ist auch der tiefere biologische Sinn des ausgesprägten Kuscheltriebs der Pombaren, von dem du vielleicht schon gehört hast."
Ascarde nickte. „Und wie lange geht ihr... schwanger?"
„Das lässt sich nicht so einfach beantworten. Wenn ein Pombare fühlt, dass seine Zeit kommt, wenn das Alter und das Umfeld stimmen, entwickelt das Brustgesicht allmählich eine eigene Seele. Dann wächst der Körper heran, und wir müssen ihn schützen. Dann darf alles Mögliche passieren, nur kein Schlag vor die Brust."
„Und wie lange dauert dieser Zustand?"
„Im Verlauf von sieben Monaten bildet der Brustkörper sich vollständig aus und nabelt sich dann vom Hauptkörper ab. Dieser Prozess ist sehr... euphorisch für uns."
„So ähnlich wie bei uns Lebenden ein Orgasmus, vermute ich."
Die Lebenden, das war die Bezeichnung der Kara für sich selbst und gleichzeitig die wörtliche Übersetzung ihres Eigennamens.
„Dazu kann ich leider nichts sagen ... Mir fehlen die Vergleichsmöglichkeiten." Ich lächelte schwach.
„Jedenfalls kann es Jahre dauern, bis ein Pombare nach einer Geburt ein neues Brustgesicht und einen neuen Brustkörper entwickelt. Wenn du einmal einen Pombaren mit einer kargen Gesichtsmimik siehst, handelt es sich bestimmt um einen Eiter, dem das Brustgesicht zur mimischen Unterstützung fehlt. Das ist typisch für das Jahr nach einer Geburt."
„Eine andere Frage", sagte Ascarde. „Ich verstehe ja, dass dein Gewand brust- und bauchfrei ist. Aber die Pombaren sind eine hochzivilisierte Spezies von einem wichtigen Handelsplaneten. Warum trägst du dann Kleidung aus so grob gewobenem, kratzigem Stoff?"
Nun lachte ich laut auf. „Die Struktur dieses Materials dient auch zur Reinigung der Haut und erspart uns so manche Wäsche. Wir Pombaren sind sehr wasserscheu. Davon nehme ich mich übrigens nicht aus."
„Ich wollte dir nicht zu nahe treten." Ascarde lachte auch und hob ihre vier Arme. Ihre Hände hatten jeweils sechs Finger, die Hautfarbe war ein helles Braun.
„Das hast du auch nicht getan."
„Ist das deine erste interstellare Reise?"
„Meine erste größere, ja." Ich seufzte.
Ascarde schien die Melancholie zu spüren, die mich unvermittelt überkam, und wechselte von sich aus das Thema. „Wie gesagt, ich bin schon weit herumgekommen ..."
„Viele Kara scheinen durch Tradom zu reisen."
„Ja. Nachdem wir uns entschieden haben..."
„Entschieden?"
Sie nickte ernst. „Wie alle müssen uns für den Weg der Liebe oder den Weg des Blutes entscheiden.
Wer den Weg der Liebe geht, müht sich sein Leben lang um Frieden, wer den Weg des Blutes geht, kann nur die Gewalt zu seinem Lebensinhalt machen."
„Aber..." Ich schluckte. Mittelmaß scheint es bei den Kara nicht zu geben, dachte ich. „Das hört sich für mich furchtbar an. Eine einzige Entscheidung, die
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