2112 - Verschollen in Tradom
ich abstumpfte und mich veränderte, um irgendwann genauso gefühllos zu sein wie die Piraten? Davor hatte ich Angst. Wenn es so weit kommen sollte, wäre ihnen gelungen, was sie von Anfang an vorgehabt hatten: mich zu brechen.
Aber nein, die relative Zurückhaltung der Piraten hatte einen anderen Grund. Kommandantin Inckaz und ihre Führungscrew hatten meine Talente entdeckt, meine technische und wissenschaftliche Begabung.
Schon ziemlich bald wurde ich aus den Maschinenräumen in die Zentrale des Schiffes verlegt, wo ich den eigentlichen Piloten mit meinen Kenntnissen zur Hand gehen musste.
Inckaz schien meine profunden wissenschaftlichen Kenntnisse zu schätzen und bediente sich ihrer immer wieder. Aber das hielt sie nicht davon ab, mich auch immer wieder zu schikanieren, mich den einfallsreichsten Strafen auszusetzen. Mehr als einmal befürchtete ich, sie würde mich bei einem ihrer Wutanfälle einfach zerreißen.
Schließlich wurde ich als Gehilfe des Steuermanns ausgebildet und kam daraufhin in den Genuss mancher Vergünstigung. Ich durfte mich in weiten Teilen der FESCO frei bewegen, bekam so bald heraus, dass das Piratenschiff vor Waffen nur so starrte, und schaffte es schließlich sogar, auch Tratto aus den finsteren Bedingungen der Maschinenräume herauszuholen und ihn Hilfsdienste in der Zentrale leisten zu lassen.
Tratto dankte mir, dass ich uns zusammengeführt hatte und wir nun wieder gemeinsam Dienst tun konnten, mit noch größerer Zuneigung, falls das überhaupt möglich war - und indem er mir das Leben rettete.
Der Vorfall zeigte mir, was aus uns bereits geworden war. Denn nicht ein Pirat wollte mich töten, sondern ein Mitgefangener, ein Versklavter wie ich. Ein Woslit, der glaubte, ich hätte ihm seine Schale mit Nahrungsbrei gestohlen, griff mich so schnell an, dass ich nicht reagieren konnte. Der harte Rand seines Pyramidenkopfs prallte mit solcher Wucht gegen meinen Hals, dass ich keine Luft mehr bekam und zusammenbrach.
Niemand griff ein, als der Woslit sich auf mich stürzte und mich mit seinen Tentakeln würgte, kein Pirat, auch kein Mitgefangener. Übel riechender Schleim tropfte auf mein Gesicht, drang mir in Nase und Mund.
Es wurde schon schwarz um mich, als Tratto endlich kam. Er warf sich einfach auf den Woslit, drängte ihn von mir fort und hätte ihn seinerseits mit seinem bloßen Gewicht fast zerquetscht.
Ich weiß nicht, wie es ihm gelang, seine Abscheu vor Gewalt zu überwinden, und fragte ihn auch nicht danach. Ich war ihm nur dankbar für seine Tat, unendlich dankbar.
Vielleicht war unsere Freundschaft doch imstande, Unmögliches möglich werden zu lassen.
*
Aus Monaten wurde ein Jahr, und dann wurden zwei daraus, und der Schrecken nahm kein Ende.
Immer wieder erlebten wir mit, wie die Besatzung der FESCO Handelsschiffe, aber auch Stützpunkte zivilisierter Welten Tradoms überfiel, ausraubte und dabei grausame Blutbäder anrichtete.
Zuerst sperrte man uns in Zellen, wenn solche Angriffe anstanden, schließlich mussten wir dabei weiterhin Dienst tun. Wir nahmen allerdings nie an den Überfällen selbst teil, bekamen nie eine Waffe in die Hand. So weit vertraute Inckaz selbst jenen Sklaven nicht, die schon verhältnismäßig lange an Bord des Freibeuterraumers waren.
Meine Zweifel am Reich, an der Inquisition der Vernunft, ja sogar an Anguela wurden immer stärker. Warum ließ das Reich diese Massaker zu?
Warum hatte ich auf Pombar, in der fernen, beinahe schon unwirklich friedlichen Hauptstadt Barlofft, niemals etwas von diesen unglaublichen Missständen gehört?
War sogar die allwissende, alles sehende, sorgende Kraft von Anguelas Auge am Ende nur Schwindel?
Und schließlich zweifelte ich sogar an Tratto. Sein hysterisches Verhalten hatte allmählich mein Misstrauen geweckt, und ich war mittlerweile davon überzeugt, dass mein Freund ein Geheimnis verbarg. Aber was konnte es schon geben, das Tratto nicht einmal mir anvertrauen würde?
Es dauerte eine Weile, bis ich genug Mut gefasst hatte, ihn direkt auf die Seltsamkeiten anzusprechen.
Tratto lehnte sich gegen die Zellenwand zurück und sah mich unglaublich traurig an. „Ich weiß, mein Freund", sagte das plumpe Wesen. „Ich verhalte mich ungewöhnlich. Aber das liegt daran, dass ich in Wahrheit ... weiblich bin. Und ich bin schwanger. Ich muss ein werdendes Kind beschützen - und bin an Bord eines Piratenraumers gefangen. Welch eine Katastrophe!"
Ja, welch eine Katastrophe!
Vergangenheit: Die
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