212 - Das Skelett (German Edition)
Mordwaffe, entnahm das Magazin und schmiss beides über Bord. Nur Macht der Gewohnheit. Das Meer mit seinem riesigen Schlund schluckt wirklich alles und unterscheidet nicht zwischen Gut und Böse.
Michail blieb nicht regungslos sitzen, er machte sich auch nützlich und schmiss den zweiten Kosaken über Bord. Ich schaute in die Ferne, nirgends war ein anderes Boot zu sehen, nichts, was mir helfen könnte. Nur die vermeintlich unendliche Weite, ähnlich fühlte ich mich. Es war kein Ende abzusehen.
Ich stand einfach nur da und war zu keiner Gefühlsregung mehr fähig, ich zitterte auch nicht mehr. Micha il und Artjom traten beide an mich heran, umarmten mich und küssten mich, ihren Bruder. Artjom ließ es sich nicht nehmen, etwas „Bedeutendes“ zu sagen:
»Das war deine Reifeprüfung. Alle drei waren so unbedeutend wie Katzenstreu, niemand wird sie vermissen. Nur entbehrliche Leibeigene, es umgeben mich einfach zu viele davon. Du bist anders! Wir sind stolz auf dich und wissen nun, dass wir uns auf dich verlassen können. Wenn wir im Hafen von Casablanca sind, wird als Erstes deine Yacht repariert, versprochen. Dort werden wir ausspannen und einen charismatischen Mann treffen.
Henryk, schau mich an ! «
Wie ein verschrecktes Kind schaute ich fassungslos, mehr ängstlich, immer noch irgendetwas erwartend, in seine dunklen Augen. Dass meine Yacht wieder in Ordnung kommen würde, das war ihm wichtig.
Mein Wille war für immer und ewig gebrochen, jetzt war ich nur noch eine fleischige Hülle ohne Empfindungen. Nun hatte er sein Ziel wirklich erreicht …
In wenigen Monaten war ich auf die niederste Evolutionsstufe abgestumpft, was für eine weitere Lebensleistung.
» Alles wird gut«, rief er lächelnd.
» Wir drei werden den Rest der Welt erobern, so wahr ich Artjom Chlebnikov heiße.«
Kapitel 2 6
Der Mensch ist das anpassungsfähigste Wesen auf diesem Planeten. Wenn es noch keinen Beweis dafür geben sollte, dann bin ich es. Um Martha zu trauern oder ehrlich etwas zu bedauern, bekam ich keine Zeit, nur zum Verdrängen. Das beherrschte ich ja schon seit Längerem meisterlich.
D ie drei Tage in Casablanca waren angenehm, ich war ein braves Schoßhündchen und erfüllte meine Pflicht.
Der „charismatische Marokkaner“ war nur ein weiterer Gangster mit globalen Beziehungen und zwei schönen Töchtern. Ein Plünderer des gesamten afrikanischen Kontinents. Großzügig wollte er eine der beiden mit mir verheiraten, ich wies diese nette Geste höflich zurück. Ich glaube, das war nicht mal als Scherz gedacht.
Youssef bekam von Artjom den Auftrag , zigtonnenweise Natursteine zu besorgen, nicht nur für die Klinik, sondern auch für weitere Immobilienprojekte. Neben Marmor und Granit zeigte er uns Travertinsteine in einer Farbenpracht, die unvorstellbar war. Nun wusste ich, wer im Penthouse in London die Bäder ausgestattet hatte. Sogar um solche Banalitäten kümmerte sich der Oberguru selbst. Kleinigkeiten – beileibe nicht, denn das Auftragsvolumen lag bei weit über fünfzig Millionen Dollar. Artjom erklärte mir, dass sie in Europa das Dreifache dafür bezahlt hätten. Sogar der Transport war in ihrem Deal mit drin. Ja, dieser Russe hatte ein gutes Händchen für Geschäfte. Obwohl ich mich in meinen Gedanken im tiefen Tal der Trauer befand, zollte ich ihm mal wieder diese Anerkennung.
Ich durfte keine menschlichen Schwächen mehr zeigen und tat es auch nicht. Nie mehr, sonst würden sie mich weiter drangsalieren oder töten oder gar weitere Familienangehörige langsam und unter größten Schmerzen misshandeln. Mindestens einmal pro Stunde sah ich alle Bilder des erlebten Grauens vor mir.
Und es könnten noch neue, vielleicht schmerzlichere dazukommen.
Nein, das durfte niemals mehr geschehen .
Artjom war gnadenlos, ich würde ihn nicht erweichen. Also ertru g ich meine seelischen Qualen.
Lügen, verstellen, anpassen, schauspielern, die eigene Persönlichkeit verzerren. Ja all diese Attribute verinnerlichte ich in glaubhafter Vollendung. Sie nahmen mir meine Rolle als leicht angeschlagener, aber kämpferischer Boxer ab.
Artjom brauchte mich nicht, für wirklich gar nichts. Er hätte Hunderte andere Ärzte mit Renommee finden können, die für dieses viele Geld und all d ie Möglichkeiten, die sich mir boten, allein für das Klinikflaggschiff in Hamburg, ohne Einschränkungen alles getan hätten. Das war es auch nicht, ich verstand seine Beweggründe lange nicht. Artjom liebte es, erlebte
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