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219 - Kaiserdämmerung

219 - Kaiserdämmerung

Titel: 219 - Kaiserdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia Zorn
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hatte wieder sein Schwert in der Hand. Sie stierten an ihm vorbei zu einer entfernten Baumgruppe. Zarr folgte ihrem Blick.
    Es dauerte eine Weile, bis er die Gestalten zwischen den Bäumen entdeckte: Nackthäute mit blitzenden Macheten und Speeren, gekleidet in dunkle Gewänder. Einer hob die Hand. Langsam näherten sie sich den Gefährten. Es waren neun. Neun schwer bewaffnete Kuttenträger.
    ***
    20. April 2524, Waldhütte im Nordwesten des Victoriasees
    Victorius und Member hatten es sich an einem Feuer vor der Hütte bequem gemacht. Während der Eremit ein Pfeifchen paffte, lauschte er aufmerksam Victorius’ Erzählungen: von der Mutter, die bei der Geburt des Jungen starb, von Pilatre de Rozier, der wohl ein fähiger Kaiser, aber als Vater ein absoluter Versager zu sein schien, und von den unzähligen Kindern, die der Mann in die Welt gesetzt hatte.
    Zufrieden betrachtete Member seinen Schützling: Dessen Augen leuchteten und seine schlanken Finger beteiligten sich lebhaft an den Geschichten. »Trotzdem gab es auch schöne Zeiten. Zum Beispiel, als wir in Paris-à-l’Hauteur lebten. Die Stadt war noch von alter Bauweise. Sie war nicht mobil wie Wimereux und bestand aus Dutzenden von einzelnen Plattformen. Dazwischen gab es Laufstege und Hängebrücken, und die Wohnräume sahen aus wie kleine Gondeln. Für uns Kinder war Paris-à-l’Hauteur ein einziger Abenteuerspielplatz.« Nachdenklich stocherte der Prinz in der Glut des Feuers herum. »Ich kann mich nicht erinnern, dort nur ein einziges Mal unglücklich gewesen zu sein.« Er hob seinen Kopf und grinste Member an. »Nur ein Mal. Einige meiner Brüder und ich hatten unseren nackten Schwestern beim Schwimmen zugeschaut. Dafür setzte es Prügel, vom Kaiser höchstpersönlich. Manchmal kam er eben doch seinen Vaterpflichten nach.«
    Gedankenversunken wandte er sich wieder dem Feuer zu. »Ich habe nie meine Mutter vermisst. Ich kannte sie ja nicht, und niemand redete über sie. Wenn ich Kummer hatte, tröstete ich mich am Busen meiner Amme oder suchte Zuflucht bei Wabo, dem ältesten Freund meines Vaters.« Einen Augenblick lang starrte Victorius schweigend in die Flammen. »Mit dem Umzug nach Wimereux-à-l’Hauteur änderte sich alles! Meine Amme kam nicht mit in die neue Stadt. Wabo wurde Kriegsminister und ich sah ihn nur noch selten. Meine Geschwister lebten mit ihren Müttern in einzelnen Gemächern im Palais la femme. Ich hatte zwar ein prächtiges Zimmer, aber mir fehlte die Gesellschaft. Die Stadt bot wenige Möglichkeiten zum Spielen und Toben, und in den künstlichen Parkanlagen des Palastes waren wir Kinder unter ständiger Aufsicht.«
    Member setzte seine Pfeife ab. »War es in Wimereux, wo du von deiner Herkunft erfuhrst?«
    »Ja. Ich war vierzehn Jahre alt und hatte zum ersten Mal eine Roziere gesteuert. Stolz lief ich zu Wabo, um ihm von meinem Erfolg zu berichten. Sein Zimmerfenster stand weit offen und ich hörte die Stimme meines vermeintlichen Vaters. Es war das einzige Mal, dass ich ihn weinen hörte. Er bereute, meine Mutter in die Arme seines Freundes Nikombe getrieben zu haben. Er bereute, Nikombe im Duell getötet zu haben. Er gab sich die Schuld am Tod meiner Mutter. Und er fluchte über die Strafe, nie erfahren zu haben, ob ich sein oder Nikombes Sohn wäre.«
    Member zog die Augenbrauen hoch. »Dann ist es nicht sicher, ob Nikombe wirklich dein Vater ist.«
    Victorius lachte bitter. »Schau mich an! Es gibt nichts an mir, was Pilatre ähnlich ist!«
    Der Eremit tat einen Zug aus seiner Pfeife und blies ein gekräuseltes Wölkchen in Victorius’ Richtung. »Er hat dich als seinen Sohn anerkannt!«
    »Er hat mich behandelt wie einen Bastard!« Victorius zerbrach einen kleinen Ast zwischen seinen Fingern. Um seinen Mund lag ein grimmiger Ausdruck. »Ich erholte mich nur langsam von dem, was ich da unfreiwillig gehört hatte. Verkroch mich zunächst in meinem Zimmer oder in dunklen Ecken des Palastes. Fühlte mich fremd und einsamer als je zuvor. Aber gleichzeitig erleichtert. Unerklärlich erleichtert. Nach einer Weile begann ich mir den Mann, der vorgab, mein Vater zu sein, genauer anzuschauen. Nicht mehr als Junge, der sich selbst aus den Augen eines strengen Richters sieht. Sondern als jemanden, der den Mann beurteilte, der ihm Unterkunft gab, weil er dessen Vater getötet hatte. Ich wurde selbst zum Richter!«
    Victorius warf die Zweige ins Feuer. Ein versonnenes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Mein Urteil fiel nicht gut

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