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219 - Kaiserdämmerung

219 - Kaiserdämmerung

Titel: 219 - Kaiserdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia Zorn
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aus. Trotzdem hörte der Drang, diesem Mann gefallen zu wollen, nie ganz auf. Ich perfektionierte alle Eigenschaften, die Pilatre so schätzte. Ich wurde Meister in der Anwendung der Hofetikette. Ich kleidete mich formidable. Wie kein anderes der Kinder studierte ich Bücher und Baukunst. Ich wurde der perfekte Sohn eines perfekten Kaisers. Ich war siebzehn und genoss plötzlich das Wohlwollen Pilatres, der sich vermutlich das erste Mal seit meiner Geburt sicher schien, dass ich doch sein Sohn war.«
    Der Prinz lächelte grimmig. »Genau in diese Wunde legte ich meinen Finger. Ich begann ein anderes Leben zu führen. Nahm jede Gelegenheit wahr, mit dem Hofgesinde und den Arbeitern in der Stadt zusammen zu sein. Stellte mir vor, mein richtiger Vater könnte aus ihren Reihen stammen. Ich lernte ihre Art zu sprechen, hörte mir ihre Sorgen und Nöte an und befreundete mich mit ihren Kindern. Mit einem von ihnen gründete ich sogar eine Bande. Kinder der Nacht, so nannten wir uns. In unseren Phantasien beraubten wir verbrecherische Adelige und verteilten ihre Jeandors an die Armen. Viele Jahre später wurde aus dem Kinderspiel Ernst. Aber das ist eine andere Geschichte. Auf jeden Fall sprach es sich herum, in welchen Kreisen sich der Kaisersohn bewegte. Sehr zum Verdruss meines Ziehvaters. Umso mehr meine Ausflüge in die niedere Welt ihn aufbrachten, umso häufiger sorgte ich für Skandale. Bei Empfängen tauchte ich mit einem Rudel meiner unerwünschten Freunde auf und störte den Frieden. Wenn Stammesführer aus Pilatres Reich zu Gast waren, platzte ich in die Gespräche und ließ den Kaiser schlecht aussehen. Es verging kein Tag, an dem wir nicht miteinander stritten. Aber das Schlimmste für ihn war, als ich mit einer Küchenhilfe auftauchte und sie als meine zukünftige Braut vorstellte. Ich hatte sie geschwängert! Pilatre tobte und ich triumphierte.«
    Member begann zu husten. Er hatte sich am Rauch seiner Pfeife verschluckt. Was Victorius über sich preisgab, überstieg bei weitem das, was der Eremit erwartet hatte. Nachdem sein Hustenanfall abgeklungen war, wandte er sich ihm wieder zu. »Du hast also Frau und Kind?«
    »Ja und nein. Nachdem Salimata, so heißt meine Schöne, erkannte, dass unsere Verbindung nur dazu diente, den Kaiser zu provozieren, hat sie mich und Wimereux verlassen. Und ja: Vermutlich lebt dort irgendwo am Victoriasee ein Kind von mir. Wenn ich nicht so überstürzt abgereist wäre, hätte ich vielleicht nach den beiden gesucht.«
    Der Eremit nickte stumm. Den Grund der überstürzten Abreise kannte er: Victorius hatte ihm von einem mentalen Ruf einer unsichtbaren Macht erzählt, die ihn nach Australien gelockt hatte. Finder nannte er diese Macht. Auch wenn die Berichte des Jungen über sie verwirrend klangen, so waren überirdische Mächte Member keineswegs fremd. Nur schade, dass Victorius sich an das Ende seiner Reise nicht mehr erinnerte.
    Die Stimme des Prinzen riss den Eremiten aus seinen Gedanken. »Du hattest recht: Nichts geschieht ohne Grund! Mein Gedächtnisverlust und meine Verletzungen haben mich zu dir geführt. In den wenigen Wochen hier habe ich mehr über mich erfahren als in den vergangenen Jahrzehnten. Es ist Zeit, das dunkle Kapitel meines Lebens abzuschließen, um ein neues beginnen zu können.« Victorius erhob sich. Breitbeinig stellte er sich vor Member auf. Ein feierlicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Folgendes: Ich werde am Victoriasee nach Salimata und meinem Kind suchen. Vielleicht gelingt mir ein Stückweit Wiedergutmachung. Auf jeden Fall will ich dafür sorgen, dass es ihnen an nichts fehlt. Ich werde Pilatre aufsuchen. Ich will, dass er weiß, wie ich mich all die Jahre gefühlt habe. Ich will von ihm alles über Nikombe und meine Mutter erfahren. Ich erwarte keine Versöhnung, nur Klarheit.«
    Jetzt ging er vor Member in die Hocke. Seine Augen leuchteten. »Und dann werde ich wieder nach Ägypten reisen. Ich habe dort herrliche Bauwerke gesehen, Member. Ich will von deren Erbauern lernen. Und wer weiß, vielleicht finde ich dort Matts schöne Barbarin wieder, die ich bei ihrem schrecklichen Sohn und dem widerlichen Croc zurücklassen…« Victorius sprach den Satz nicht zu Ende. Überrascht starrte er Member an. »Ich erinnere mich wieder. Mon dieu, ich erinnere mich!«
    ***
    20. April 2524, Wimereux-à-l’Hauteur
    Das dampfbetriebene Otomobil lärmte über den Vorplatz des Palastes. Es beförderte eine seltene Fracht: Prinz Akfat. Der Regent wollte

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