219 - Kaiserdämmerung
Vorsichtig richtete sie sich auf. Als sie an der Zelle vorbei schlich, streiften ihre Blicke über den blutigen Behandlungstisch. Ob mein Onkel auch hier gelegen hat? Der Gedanke war ihr unerträglich. Tränen der Wut rollten über ihre Wangen. Eilig wandte sie sich ab und lief in Richtung Treppe.
Plötzlich glitt aus einem der Seitengänge eine gebückte Gestalt. Tala konnte nicht mehr ausweichen und stieß mit ihr zusammen. Blitzschnell zückte sie ihre Waffe. Der schwarze Stein auf dem Griff gab unter ihrem Finger nach und die krallenförmige Klinge schwebte zwischen ihr und dem vermeintlichen Angreifer. »Ein Laut und du stirbst!«, raunte sie ihm zu. Unter der Kapuze seines Mantels starrte sie ein Mann überrascht an. »Wir sterben beide, wenn wir es nicht schaffen, hier rechtzeitig rauszukommen!«
Tala zögerte. Er hatte recht, Pierre de Fouché war mit seinen Männern sicher schon in der großen Halle. Aber wer sagte ihr, dass der hier nicht auch zu ihnen gehörte?
Als könnte er ihre Gedanken lesen, schob der Fremde die Kapuze ein wenig nach hinten. Ein vernarbtes Gesicht kam zum Vorschein. »Ich heiße Zordan und gehöre zu den Kindern der Nacht.«
Diese Information hätte er sich auch sparen können. Dass er Mitglied dieser Brandstifter war, bedeutete für Tala noch lange nicht, dass er nicht trotzdem ihr Feind war. Es war gar nicht so lange her, da hatte eine Frau dieser Gruppierung Tala beinahe umgebracht.
Zordan wurde ungeduldig. Aus grauen Augen schaute er sie eindringlich an. »Ich bin ein Freund von Doktor Aksela! Alles Weitere sollten wir später besprechen! Was sagst du dazu?«
Tala sagte gar nichts mehr. Sie ließ ihre Waffe sinken und rannte zur Treppe. Zordan folgte ihr. Wie im Flug erreichten sie die große Halle. Und keine Sekunde zu früh hechteten sie durch deren offenen Eingang.
Tala spürte den kalten Nachtwind auf ihrem Gesicht. Wie von Geisterhand bewegt, schloss sich in ihrem Rücken die Tür. Von der Mitte des Hofes hörte sie Stimmen: Pierre de Fouché! Wieder verspürte sie das heftige Verlangen, ihn zu töten. Schon machte sie einen Schritt in seine Richtung. Doch Zordan packte ihr Handgelenk und riss sie in die Dunkelheit neben den Eingang. »Folge mir!«, befahl er leise.
Und Tala gehorchte. Schlich hinter ihm unter die Befestigungen der Palisaden, zwängte sich mit ihm durch eine getarnte Öffnung im Zaun, hastete durch Gassen und über Plätze. Sie stellte keine Fragen mehr. Nicht nach der Lücke in der schwer bewachten Bastion der Verteileranlage, nicht nach ihrem Begleiter und nicht nach dem Ziel ihrer Flucht. Wie ein Automat folgte sie Zordan. Und während sie das tat, schien das Hier und Jetzt zu verblassen.
Als wäre sie uralt, zogen Fragmente ihres zwanzigjährigen Lebens durch ihre Gedanken: die Große Grube mit all ihren Toten, ihr geliebter Nabuu, der bei seinem Ende mehr Gruh als Mensch gewesen war. Die Totenmaske ihres Onkels, der ihr gleichermaßen Familie und Zuhause war. Akfat, der ihr Misstrauen gegenüber Pierre de Fouché abtat, als wäre es die zornige Rache eines Kindes.
Die Welt in der sie sich bewegte, schien verstümmelt. Sie selbst war darin zu einem Fremdkörper geworden. Es gab nichts und niemanden, für den es sich lohnte zu kämpfen. Und schlussendlich war Kämpfen doch das Einzige, was sie noch dazu bewegen konnte, am Leben überhaupt teilzunehmen.
Erst als sie den äußeren Ring im Westen der Stadt erreicht hatten, tauchte Tala aus ihrer düsteren Gedankenwelt wieder auf. Überrascht stellte sie fest, dass sie sich vor dem Hintereingang des kaiserlichen Theaters befanden. Fragend schaute sie ihren Begleiter an.
»Seit dem Gruh-Krieg findet hier keine Aufführung mehr statt. Und bis euer Kaiser zurückkehrt, sind die Kinder der Nacht hier in Sicherheit!«, erklärte Zordan und klopfte in einem bestimmten Rhythmus gegen die bogenförmige Tür. Tala hörte, wie drinnen Riegel zur Seite geschoben wurden. Dann erschien das Gesicht eines rothaarigen Jungen, kaum älter als vierzehn Sommer. Während Zordan sich an ihm vorbei schob, musterte er die Leibwächterin misstrauisch. Erst als er seinen Anführer nach ihr rufen hörte, öffnete er die Tür weit genug, um Tala eintreten zu lassen.
Sie gelangten in einen weitläufigen Raum, der von einer Öllampe mehr schlecht als recht erhellt wurde. Der Fußboden war mit Matten bedeckt, und auf zerwühlten Decken entdeckte Tala mehr als zwei Dutzend schlafende Menschen. Am anderen Ende des Raumes
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