22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
Verzeih, daß ich es vorhin vergessen habe!“
Nun war es unterhaltend, zu beobachten, wie die beiden zuschauten. Ich machte mir den Spaß, die europäische Art, zu essen, so verwickelt wie möglich darzustellen. Welche Wonne dieses Hantieren der ‚Festjungfrau‘ bereitete! Wie oft rief sie ‚dem Kind‘ zu:
„Du, das ist fein!“
Und als ich endlich gar einige Birnen und Pflaumen schälte, schlug sie die Hände zusammen und sagte:
„Das ist das Allerfeinste. So etwas gibt's in der ganzen Welt gar niemals wieder!“
Hierauf war es Zeit, mit Tifl zu den Dschamikun zurückzukehren. Als wir aus dem Wald traten, bot sich mir ein sehr bewegtes, freundliches Bild. Die Perser saßen, links von uns, hier oben. Am Tempel hatte sich der Peder zu Hanneh gesellt. Den Ustad sah ich nicht. Überall gab es sitzende, stehende oder heiter sich bewegende Menschengruppen. Die jungen Männer unterhielten sich mit verschiedenartigen Spielen, welche den Zweck hatten, Kraft und Gewandtheit zu verleihen.
„Soll ich anfangen, Effendi?“ fragte mich Tifl.
„Womit?“
„Singen. Ich sagte dir doch, daß ich sie alle stumm singen werde. Man wollte schon längst damit beginnen. Aber der Peder hat mir versprechen müssen, daß ich der erste sein darf.“
„Du willst es hier tun, gleich hier oben?“
„Ja. Meine Stimme geht weit, bis dort zum Berg hinüber, und hier sehen mich auch alle. Paß auf, Effendi, wie still und ruhig alle sein werden, wenn ich anfange!“
Ich wurde wirklich neugierig. ‚Das Kind‘ als Solosänger! Ich hatte gar kein so rechtes Vertrauen zu ihm; aber wenn er so singen wie er reiten konnte, so war das Selbstvertrauen, welches er zeigte, sehr wohlbegründet.
„Was wirst du singen?“ fragte ich.
„Was ich dir schon sagte: ein Liebeslied. Dieses bringe ich von allen am besten. Paß auf!“
Er stellte sich in Positur, räusperte sich und begann. Welch eine Stimme! Fast hätte ich ihn mit ‚Maschallah‘ unterbrochen. Das war ja ein Tenor, ein Heldentenor von unbeschreiblicher Fülle und herrlichster Klangfarbe! Allwissender Pollini! Von unserm Tifl aber hast du nichts gewußt, sonst wärst du schon längst hier bei den Dschamikun gewesen, um womöglich den Besitzer dieser geradezu phänomenalen Stimme hier auf- und daheim am Alsterbassin wieder abzuladen!
Es war genau so, wie er gesagt hatte: Gleich bei dem ersten Ton schaute alles herauf zu uns, und noch war kaum die zweite Zeile beendet, so hatte auf der Graslehne und im Park jede Bewegung aufgehört. Ich sah zu den Persern hinüber. Sie waren alle aufgesprungen, wie von der Macht, welche in Tifls Kehle steckte, elektrisiert. Wie reich begabt war dieses ‚unser Kind‘! Und welcher Text war es, der dem Lied unterlag? Folgender:
„Die schönste Blume auf der Welt
Stand morgens an des Nachbars Zelt.
Da kam der Tag im goldnen Licht
Und küßte fromm ihr Angesicht.
Kaum glaubte ich dem Sonnenschein:
Das konnte nur ein Märchen sein.
Die schönste Blume auf der Welt
Stand abends an des Nachbars Zelt.
Da kam die Nacht im Mondeslicht
Und küßte fromm ihr Angesicht.
Kaum glaubte ich dem Mondenschein:
Das konnte nur ein Märchen sein.
Die schönste Blume auf der Welt
Steht nun bei mir in meinem Zelt.
Wer kommt nun jetzt mit seinem Licht?
Wer küßt nun fromm ihr Angesicht?
Wer geht bei uns nun aus und ein?
Das muß erst recht das Märchen sein!“
Das also war ein Liebeslied! Ich lasse es ohne Kommentar, denn es redet seine eigene Sprache!
Als der letzte Ton verklungen war, ertönten von allen Seiten laute Achsant- und Jagada-Rufe („Hast du es schön gemacht“, „Bravo!“).
„Nun, Effendi, kann ich singen?“ fragte er.
„Fast noch besser, als du reiten kannst“, antwortete ich.
„Und waren nicht gleich alle stumm?“
„Alle!“
„Ja; ich singe über alle weg und reite an allen vorbei. Das wirst du sehen; wenn wir Wettrennen haben. Unsere Stute wird die Siegerin sein. Sie steht dort an der Tempelecke.“
„Wie kommt das? Ich denke, Kara ist mit ihr heimgeritten?“
„Ja; aber seine Mutter ist dann auf ihr herübergekommen. Siehst du, daß sie dir winkt?“
Hanneh forderte mich allerdings mit der Hand auf, zu ihr zu kommen. Ich leistete natürlich Folge und erlöste dadurch den Peder von der Verpflichtung, bei ihr zu bleiben. Sie ging mit mir nach meiner Ecke, wo wir uns nebeneinander niedersetzten.
„Hast du schon einmal so herrlich singen gehört wie heute, Sihdi?“ fragte sie.
„Wir haben im Abendland wunderbare
Weitere Kostenlose Bücher