2220 - Tote leben länger
Schott zum angrenzenden Kontrollraum wurde von der anderen Seite her durchschlagen: Ein fahler blauer Schemen zerfetzte den Stahl, als handele es sich um Pappe, und raste mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit durch den Raum. Kreischend warfen sich Leute zu Boden, suchten Schutz vor dem Mordapparat, der da so unversehens aufgetaucht war. Als die ersten dieses Geschoss als Daellians Medotank identifizierten, hatte es den Reaktor bereits erreicht. Überraschte Ausrufe wurden laut: Ausgerechnet der schwerfällige, wie von Alterspatina bedeckt wirkende Sarkophag, der sich stets so vorsichtig wie ein rohes Ei bewegt hatte, offenbarte mit einem Mal die Geschwindigkeit und Durchschlagskraft eines Kampfroboters. So gesehen war es nicht mehr verwunderlich, dass Daellian den Einsturz der Maschinenhalle unbeschadet überstanden hatte.
Alles ging wahnsinnig schnell. Shebenyer wandte den Kopf, starrte dem Medotank entgegen, rief dem neben ihm hantierenden Physiker etwas zu, was niemand verstehen konnte, und ließ seine Hände schneller über die Schaltungen gleiten.
Der Sarg fegte heran, stieg gedankenschnell in die Höhe ... Ein Zischen peitschender Tentakel, ein dumpfer Aufprall - oder waren es zwei? Nur die Aufzeichnungsgeräte würden dies unterscheiden können -, danach entsetzte Stille, in der das Fallen einer Nadel zum Donnerhall angeschwollen wäre. Blutüberströmt lagen zwei kopflose Körper am Boden. Der Medotank schwebte leise summend neben ihnen, als sei er schon immer da gewesen. „Die Demonstration wird heute nicht mehr stattfinden", erklang Daellians Stimme. „Das Werk dieser beiden Attentäter würde nicht nur uns alle töten. Hat jemand Fragen?"
„Mir blieb keine andere Wahl!", beteuerte Malcolm Scott Daellian zum wiederholten Mal. „Das wird die Untersuchung ergeben", erwiderte einer der Sicherheitsbeamten schroff. Der Augenschein sprach gegen den Direktor. Das aufgebrochene Schott, vor dem Reaktor Blut, ebenso am Medotank, dazu die entstellten Leichen. „Wenn der Vorfall sich wirklich so abgespielt hat, hätte es genügt, beide Wissenschaftler kampfunfähig zu machen", hatte ein anderer Polizist eben erst festgestellt. „Was hier jedoch geschehen ist, zeugt von äußerster Brutalität."
Zwei schwere Kampfroboter hatten den Medotank zwischen sich genommen und mit Traktorfeldern fixiert. Ihre aktivierten Waffenarme zeigten deutlich, was im Falle eines Fluchtversuchs geschehen würde. „Vielleicht treffen wirklich Notwehr oder Nothilfe zu", fuhr der Mann fort, der eben auf die Untersuchung des Geschehens verwiesen hatte. „Für uns sieht es bis zum Beweis des Gegenteils wie Mord aus. Es bleibt in jedem Fall Selbstjustiz."
„Die Tat eines Verrückten", stellte eine Polizistin fest. „Nein, keine Einmischung von Regierungsangehörigen!", wehrte sie im gleichen Atemzug ab, als Tifflor auf einen ihrer Kollegen einredete. „Alle Zeugenaussagen werden protokolliert. Zudem glaube ich, dass sich der TLD der Sache annehmen wird."
„Was denkst du?", wollte Myles Kantor wissen. „Kein Kommentar", wehrte die Frau ab. Erst als Kantor absolut nicht lockerließ, sagte sie: „Ein Genie, das bei einem Unfall seinen Körper verliert und nur noch als Gehirn weiterexistiert ... Wir wissen nicht, was in ihm vorgeht. Es tut mir Leid, aber ich muss Daellian bis zur Klärung unschädlich machen."
Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben empfand Malcolm Scott Daellian Panik. Er entsann sich nicht, ob das früher, vor seiner Zeit in der USO, schon einmal der Fall gewesen war. Seine Gedanken wirbelten durcheinander.
Flucht? Vielleicht.
Er hatte eine Katastrophe verhindert, und ihm war keine andere Wahl geblieben, als so zu handeln, wie er es getan hatte. Die Kampfroboter eskortierten ihn ins Revier in Monggon-Ost. Nach wie vor hielten ihn die Traktorfelder fest. Vielleicht konnte er ihnen entkommen, wenn er schnell genug einen Ausbruch versuchte.
Und dann?
Daellian versuchte zu ignorieren, dass ein Techniker die Steuerleitungen der SERT-Haube manipulierte. Jeder Impuls von außen war wie ein greller Schmerz, der durch seine nicht mehr vorhandenen Glieder jagte und ihn in den Wahnsinn trieb.
Dann das Ende jeder sinnlichen Wahrnehmung. Das war sein zweiter Tod, und der erschien ihm noch qualvoller als damals.
Er war jetzt allein, nur noch ein Klumpen zerfurchtes Gewebe, das in Nährflüssigkeit schwamm, das nicht einmal die Nahrungsaufnahme verweigern konnte, um endgültig zu sterben. Es gab für ihn keine
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