223 - Die Sünden des Sohnes
Kinn hinauf. Imyos wand sich und jammerte immer lauter. Daa’tan fixierte ihn mit starrem Blick, das Kinn vorgeschoben, die Fäuste in die Hüften gestemmt.
»Aufhören!« Eingehüllt in eine Decke aus Dornengeäst warf Imyos sich auf den Boden und wälzte sich hin und her. »Bitte, bitte…! Ich rede, ich sag alles…!« Doch Daa’tan ließ nicht nach. Die Dornen verhakten sich in Imyos Lippen, hielten sie fest und krochen in seinen schreienden Mund hinein. Blut lief ihm in die grauen Bartstoppeln.
Elloa unter ihrem Netz begann zu zittern. Ihre Knie schlotterten und ihr Unterkiefer geriet außer Kontrolle, sodass ihre Zähne gegeneinander schlugen. Daa’tan aber wandte sich an Osamao. Der war ganz steif vor Entsetzen, große Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. » Du wirst reden!«, befahl er. »Und tu es schnell, wenn du deinen Kameraden noch retten willst.«
Osamao konnte seine Augen nicht von seinem sterbenden Großonkel lösen. Sein Widerstand war längst gebrochen. »Die Königin… sie hat uns zur Hauptstadt des Kaiserreiches geschickt…!«, stieß er hervor.
»Aber nein«, jammerte Elloa. »Er lügt, mein König, wirklich!«
»Schweig!«, fuhr Daa’tan sie an, dann an Osamaos Adresse: »Weiter!«
»Wir sollten den Kaiser vor dem Heer warnen und um Asyl für die Königin bei ihm bitten…!« Mit flehendem Blick sah er zu dem zehn Jahre jüngeren Weißen auf. »Sie hat uns dazu gezwungen…!«
»Lügner!«, rief Elloa.
»… sie hat uns mit dem Tod gedroht, wenn wir nicht gehorchen! So war es, ich schwöre es!«
Langsam drehte Daa’tan sich zu Elloa um und zog sein Schwert Nuntimor aus der Rückenscheide. »Das also ist deine Liebe?« Seine Stimme klang leise und heiser. »Das ist deine Treue?« Mit beiden Händen hob er die Klinge. »Wie habe ich dich begehrt und geliebt…« Langsam ging er auf sie zu. »Wie habe ich dir vertraut…« Er hob das Schwert.
»Nein, bitte nicht, mein König!« Elloa wollte in die Knie sinken, doch Bantu und Mongoo hielten sie fest. »Verzeih mir, verzeih mir…!«
Fackeln näherten sich vom Marktplatz her, eine Gruppe Huutsi-Krieger und einige Zivilisten der Wolkenstadt betraten den künstlichen Park. Grao’sil’aana und Mombassa waren bei ihnen. Der Daa’mure löste sich aus der Gruppe und eilte auf Daa’tan zu.
»Wir haben die Ingenieure und Techniker der Wolkenstadt aus ihren Verstecken geholt.« Er stutzte, als er Imyos und Osamao vor dem Brunnen entdeckte. »Beherrsche dich, Daa’tan«, zischte er. »Sie verlieren sonst den Respekt vor dir!«
»Es sind Verräter!« Daa’tan spuckte aus. »Und sie ist die größte Verräterin!« Mit der Schwertspitze deutete er auf die zitternde und heulende Elloa. »Tritt beiseite. Ich wollte sie eben bestrafen!«
Der Daa’mure hielt ihn am Schwertarm fest. »Lass sie am Leben«, flüsterte er. »Wenigstens vorläufig. Heute ist schon genug Blut geflossen. Wenn dein Blutdurst auf die Huutsi übergreift, gibt es hier ein Massaker, und dann haben wir niemanden mehr, der uns die Stadt wieder instand setzt.«
Daa’tan knirschte mit den Zähnen. Er schnaubte vor Wut. »Reiß dich zusammen«, zischte sein Mentor. »Du bist der König.« Er beugte sich dicht an Daa’tans Ohr. »Wir müssen jetzt rasch die Schäden in der Stadt reparieren. Sicher hat de Rozier Boten in die anderen Städte geschickt. Wir sollten wieder oben in den Wolken sein, wenn deren Luftschiffe hier auftauchen. Benimm dich jetzt wie ein Eroberer und sag den Ingenieuren, was sie zu tun haben.«
Daa’tan machte sich von ihm los und wandte sich an die Gefangenen. »Ihr seid also die Ingenieure des Kaisers?«, fragte er verächtlich. Ein zierlicher Mann in gelbem Frack und mit Perücke nickte schweigend. »Bist du der Chefingenieur?« Wieder nickte der Gelbfrack. »Dann such dir die Männer aus, die du brauchst, und mach dich an die Arbeit. Die zerstörten Ballons und die beiden Propeller müssen repariert werden.« Der Perückenträger rührte sich nicht. »Ist das klar?«
»Nein.«
»Wie ›nein‹?« Daa’tan runzelte die Stirn. Er ging auf den Ingenieur zu. Alle anderen bis auf den Gelbfrack wichen zurück. Sogar der hünenhafte Mombassa trat einen Schritt zur Seite.
»Es ist schon zu dunkel, um noch mit den Reparaturarbeiten beginnen zu können« , sagte der Mann im gelben Frack mit ruhiger Stimme.
Daa’tan atmete tief durch. Dann hob er das Schwert und setzte die Spitze an die Kehle des Mannes. »In zwei Tagen startet die
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