223 - Gaston, Diana - Die mysteriöse Miss M
sie sich nur auf die Zehenspitzen stellen musste, um mit ihren Lippen seine zu berühren. Sie konnte in seinem Atem den Portwein riechen, dessen Geschmack sie noch immer im Mund hatte. Der Wunsch, ihn auch bei Devlin zu kosten, war fast übermächtig. Er rührte sich nicht von der Stelle, also lag die Entscheidung allein bei ihr.
Seine Hände lagen leicht auf ihren Armen, die Hände, die vor Jahren ihre nackte Haut gestreichelt hatten. Sie sehnte sich nach der Freude und der Angst, ihren Körper mit seinem zu vereinen. Als sie sich tatsächlich auf die Zehenspitzen stellte, bewegte sich Devlin auf sie zu. Sein Mund berührte ihren mit der Begierde eines Mannes, der sich kurz vor dem Hungertod befand. Ihr eigenes Verlangen erwachte im gleichen Moment, als sie sich gegen ihn drückte und die Arme um seinen Hals schlang.
Sie wollte ihn wieder, und das mit aller Zügellosigkeit ihres armseligen Körpers, der sie so schmählich im Stich gelassen und ihren verdienten Niedergang herbeigeführt hatte. Ihr war in Fleisch und Blut übergegangen, wie sie sich von allen Gedanken und Gefühlen lossagen musste, um die von Farley geforderte Rolle zu spielen. Bei Devlin jedoch war es ihr nicht möglich, auf Abstand zu ihrem Körper zu gehen und ihren Geist dem Geschehen zu entziehen.
Mit Mühe brachte sie eine Frage zustande: „Willst du mich, Devlin?“ Ihre Stimme klang beherrschter, als sie selbst sich fühlte. „Willst du das Bett mit mir teilen?“
Er hielt inne, bis sein Schweigen ihre Knie weich werden ließ. Mit kühlem Tonfall entgegnete er: „Bin ich überhaupt in der Lage, mir Miss M. zu leisten?“
Dann wandte er sich ab, eilte die Treppe nach unten und stürmte aus dem Haus.
Im Stadthaus am Grosvenor Square saß der Marquess of Heronvale vor seinem Teller und betrachtete desinteressiert sein Essen.
Er sah zu seiner Frau, die ihren eigenen Gedanken nachzugehen schien. Einmal mehr hatte er sie enttäuscht, und diesmal noch einfallsreicher als zuvor. Sich mit seinem jüngeren Bruder auf dem Boden zu wälzen und sich zu prügeln konnte sich nicht zum Guten auf die Achtung auswirken, die sie ihm entgegenbrachte – erst recht nicht, nachdem er auch noch als Verlierer aus der Auseinandersetzung hervorgegangen war.
Es war demütigend.
Vermutlich hatte sie Devlin ohnehin für den Überlegenen gehalten. Er konnte es ihr nicht verübeln. Mit seinem Bruder verstand sie sich auf eine Weise, die ihr bei ihrem Ehemann nicht möglich war. So wenige Gefühle waren zwischen ihnen beiden im Spiel, dass es ihn kaum überrascht hätte, wäre sie beim Kampf auf seiner Seite gewesen. Zweifellos hielt sie ihn für zu streng im Umgang mit Devlin, und ganz sicher fand sie, ein Marquess sollte seine Macht mit mehr Mitgefühl ausüben.
Doch Devlin hatte ihn mit diesen Bemerkungen über seine Frau provoziert. Devlin hatte gut reden, war er doch bei Frauen genauso mühelos – und gedankenlos – erfolgreich wie in allem anderen, was er anfasste. Er selbst dagegen hatte sich als Oberhaupt der Familie jede kleine Leistung mühselig erkämpfen müssen.
Er erinnerte sich noch gut an Devlins Geburt. Er war in den Schulferien nach Hause gekommen und mit zehn Jahren bereits alt genug, um auf Percy, Helen, Julia und Lavinia aufzupassen, während seine Mutter in den Wehen lag. Als er dann das Neugeborene in den Armen hielt, schwor er, seinen jüngsten Bruder stets zu beschützen und zu verteidigen.
Devlin hatte diesen Schwur zu einer ständigen Herausforderung gemacht, da es kein unbekümmerteres Individuum als ihn gab. Es wunderte Ned nicht, dass Devlin zur Kavallerie gegangen war. Wäre er nicht der Erbe gewesen, hätte er seinem Land vermutlich auch gedient und an der Seite seines Bruders gekämpft. So aber blieb ihm nichts anderes zu tun, als einen fast toten Devlin nach Hause zu bringen.
„Ned? Bereitet dir etwas Kummer?“ Serenas sanfte Stimme holte ihn aus seinen Überlegungen.
„Was?“
„Ich dachte, du machst dir Sorgen.“ Sie mied es, ihn anzusehen.
„Nein, das mache ich nicht.“ Hätte sie gewusst, worüber er nachdachte, wäre er in ihren Augen zweifellos schwach erschienen.
„Ich bitte um Verzeihung“, sagte sie leise.
Eigentlich müsste er sie um Verzeihung bitten, weil er sich so abscheulich verhielt. Wie er das jedoch anstellen sollte, wusste er nicht. Ihm kam es vor, als sei das zwischen ihnen herrschende Schweigen eine Verurteilung.
„Du
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