223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
erschossen und blieb tot liegen in einem kleinen Bach in dem Graben. Das war der Anfang. Alle wussten, dass das Ende naht«, erzählt Marton Rosenthal in seinem gepflegten Ungarndeutsch. Er erzählt von seiner Frau Ilona und von seiner erst 20-jährigen Tochter Anna, die in einem anderen Graben gleich in der Nähe des ersten liegen, tot, mit grässlichen Wunden an den Körpern. Seine Frau, der ins Gesicht geschossen worden ist, habe er nur mehr an einer dunkelblauen Kittelschürze erkannt, die sie in den letzten Monaten immer getragen hat. »Mein Leben ist zu Ende, obwohl sie mich nicht ganz totgeschossen haben«, sagt Marton Rosenthal leise.
»Sie dürfen hier nicht bleiben, Herr Rosenthal! Wenn die SS zurückkommt …«, meint Klemens Markus so aufgeregt wie noch nie in seinem Leben. Zuvor hat er in der östlichen Baracke 2 tote, verblutete Kleinkinder fotografiert. Nachdem er Fenster und Türen sperrangelweit geöffnet hatte, um mehr Licht zu bekommen, erbrach er sein Frühstück vor der Barackentür. Er schämte sich, weil es ihm nicht möglich gewesen war, Haltung zu bewahren.
»Ich weiß«, antwortet Marton Rosenthal unendlich müde.
Durch den Spalt der Barackentür beobachtet Tibor Yaakow Schwartz gespannt, wie der ältere Mann mit dem Rucksack kurz seine rechte Hand auf Marton Rosenthals rechte Schulter legt und sich dann abrupt abwendet und losmarschiert, wie wenn er eine Mission zu erfüllen hätte. In Yaakows Rücken zerreißt der junge Mann aus Miskolc, der noch immer kein einziges Wort gesprochen hat, ein Leintuch in Streifen, um sein durchschossenes Bein notdürftig verbinden zu können.
Es sind Bilder der Apokalypse, die Klemens Markus an diesem Vormittag des 3. Mai 1945 in einem Graben etwa 200 Meter östlich des Hauses von Karl Brandstetter mit fiebrig-schweißfeuchten Händen aufnimmt. Die grotesk verzerrten, wie von einer Riesenfaust niedergestreckten Körper von 70 oder 80 Menschen. Es ist 10 Uhr, und der 55-jährige Wiener, nervlich angegriffen von dem grauenhaften Anblick, beeilt sich. Er hat noch nie in seinem Leben eine Leiche fotografiert, geschweige denn dutzende, geschweige denn ein paar hundert. Mit Schaudern erkennt er, dass die Niedergeschossenen in dem tiefen, engen Geländeeinschnitt ausschließlich Frauen sind, Frauen jeden Alters, von kleinen Mädchen bis hin zu Greisinnen. Es sind wohl auch viele junge und blutjunge Töchter und Enkeltöchter darunter, die sich auf dem Weg zum neuen Arbeitseinsatz von ihren Müttern und Großmüttern, Tanten und Cousinen nicht trennen wollten. Die meisten tragen alles an Kleidung, was sie noch besessen haben, in mehreren Schichten am Körper. Die Leichen liegen am Rücken, auf dem Bauch, auf den Seiten, übereinander, untereinander, viele mit unnatürlich verdrehten Gliedmaßen und entstellten Gesichtern. Eine Frau dagegen scheint ganz entspannt, an die Böschung gelehnt dazusitzen. Ihre Augen sind noch offen, in Brust und Bauch erkennt der Fotograf mehrere Schusswunden. Ein paar Leichen, stellt Markus mit Entsetzen fest, glosen noch. Er riecht den Rauch, das verbrannte, verschmorte Menschenfleisch, das Benzin. In seiner Aufregung weiß er nicht mehr genau, wie viele Bilder noch in seiner Kamera sind. Er versucht daher Bildausschnitte zu wählen, auf denen möglichst viele der Frauen und Mädchen und Kinder zu erkennen sind. Vielleicht, denkt er, werden die Angehörigen einige von ihnen erkennen.
Namenlos, von den Salven der Waffen-SS durcheinandergewürfelt, versuchen einige der Toten verzweifelt, dem Markus, der konzentriert und bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele verschreckt weiter fotografiert, ihre Namen zuzurufen. Ilona Weinberger zischt es leise, nicht lauter als ein Windhauch, der nicht einmal einen Grashalm an der Böschung des Grabens zu bewegen vermag. Anna Ullmann – nicht mehr als das Geräusch, das ein Kieselstein macht, wenn er von einem anderen Kieselstein rollt. Hermine Berger – nicht lauter als der Flügelschlag eines Schmetterlings. Eva, Judit und Rosa Singer – der Kopf eines Gänseblümchens, der zur Nacht nach unten kippt und gegen seinen Stängel schlägt. Franziska Schwalb – nicht lauter, als ein Eiszapfen wächst. Ilona, Katalin, Eva, Agnes, Judit und Maria Kertész – nichts als ein Stummfilm in einem leeren Kinosaal. Rózsi und Blanka Mandel – nicht lauter als ein Augenaufschlag. Lili Stroch – ein angestrengter, aber stummer Fluch mit geballter Faust im Sack. Alle Anstrengungen sind letztlich vergebens,
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