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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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die Schreie bleiben unhörbar für den Fotografen, für die Lebenden. Der Lauf der Welt kehrt sich nicht um.
    Mit klopfendem Herzen eilt Klemens Markus weiter, um die anderen Tatorte zu finden und zu fotografieren, soweit eben seine Kraft und sein Film reichen. Den alten Bauern, der ihn misstrauisch von einem Wiesenrain aus beäugt, bemerkt er dabei nicht.
    Der junge, sprachlose Mann aus Miskolc hat sich unendlich viel Mühe gegeben, Tibor Yaakow Schwartz’ Schuhe mit Fetzen aus einem alten Kopfpolster auszustopfen. Mit der gleichen Akribie hat er die Blutung aus Marton Rosenthals Brustkorb gestillt und den alten Mann verbunden. Er hat auch Wasser aus der Donau geholt, sodass sie trinken und dann das viele Blut von der Haut und von ihrer Kleidung waschen konnten. Damit kommt die kleine, 3-köpfige Gruppe nun ein wenig schneller voran. Ihr Ziel ist der Wald, zu allen Zeiten der Freund der Schutzlosen und Gejagten, mit tausend Verstecken für die, denen man nach dem Leben trachtet.
    Die Gruppe wird von Tibor Yaakow Schwartz geführt, der sich plötzlich an einen Bauernhof in Brand, einem Ortsteil von Hofamt Priel, erinnert, wo seinen Schwestern vor ein paar Tagen überraschende Mildtätigkeit widerfahren ist. Der Hofhund wurde nicht von der Kette genommen und auf sie gehetzt wie bei manch anderen Höfen. Sie bekamen sogar einen kleinen Sack mit Kartoffeln und einen Liter dicke, fette Milch, die sie aus einem Tonkrug an Ort und Stelle trinken durften. Als sie mit einem schönen, kaum gebrauchten Bettüberzug, ihrem letzten Besitz, bezahlen wollten, stellte sich der ältere Bauer ihnen gegenüber in Positur und sagte: »Das Linnen könnte ihr wahrscheinlich selber gut brauchen.« Und: »Die Erdäpfeln sind geschenkt. Die Milch sowieso.« Natürlich sagte er das nicht exakt so, sondern im breiten Dialekt der Gegend, in dem etwa aus den Kartoffeln »Erpfa« werden und aus der Milch die »Mühli«.
    Es ist schwer zu sagen, warum er das tat. Er könnte einen kurzen Moment daran gedacht haben, dass Jesus Christus selber Jude war. Eigentlich, überlegte der Bauer vielleicht weiter, ist das Wort Gottes ja ganz klar, völlig unmissverständlich und lässt gerade in einer solchen Situation an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Natürlich denkt der Mann das in etwas anderen Worten und Wendungen, bis auf die bekannte und doch so unbekannte Matthäus-Stelle, weil Bibelzitate in der Kirche immer auf Hochdeutsch vorgelesen und vom Pfarrer oder Kaplan auch in diesem fremden Idiom ausgelegt werden, das die allermeisten Pfarrkinder zwar einigermaßen verstehen, aber selbst kaum sprechen können.
    Außerdem ist da noch ein wunder Punkt, ein Geheimnis, dessentwegen der Bauer und seine Familie nicht mehr gewillt sind, dem nationalsozialistischen Regime gegenüber ihre staatsbürgerlichen Pflichten zu erfüllen. Den Bauernstand hat es schon tausend Jahre vor dem Tausendjährigen Reich gegeben, und es wird ihn auch noch in tausend Jahren geben, weil man Orden und Kanonen nicht fressen kann, denkt der Bauer und wundert sich ein wenig, dass 2 bettelnde Judenmädchen ihn so in Gedanken treiben können.
    Eigentlich will sich Tibor Yaakow Schwartz von den beiden verwundeten Männern zu den Gräben führen lassen, aber Marton Rosenthal wendet sich ruhig, aber bestimmt dagegen. »Es ist nicht gut, wenn du deine Mutter und deine Schwestern so sehen würdest. Es ist nicht gut«, sagt er leise auf Ungarisch und fügt noch hinzu: »Wenn ich vielleicht nicht mehr, nie wieder schlafen kann, weil ich heute Nacht zu viel gesehen habe, weil ich meine Ilona und meine Anna so gesehen habe … Nun, ich bin ein alter Mann, der den heutigen Tag möglicherweise nicht überlebt. Aber du. Ein ganzes Leben hast du noch vor dir. Und ohne Schlaf kann man nicht leben, glaub mir!«
    »Aber wer soll sie dann begraben?«, schluchzt Yaakow, und sein dünner Hals beginnt sich in heftigen Konvulsionen zu verkrampfen.
    »Dafür wird Gott schon sorgen, das liegt nun allein in Gottes Hand. Wir können es jedenfalls nicht, weil es zu viele sind, viel zu viele.«
    Mitten am Marktplatz wird der noch immer leicht benommene, zur Wohnung seines Hausvaters strebende Klemens Markus von einem pensionierten Beamten der Reichsbahn, einem vielleicht gar nicht so harmlosen Spaziergänger angesprochen, der zwar zu Verdauungszwecken, um seiner chronischen Verstopfung Herr zu werden, jeden Tag auf den Straßen und

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