223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Gassen Persenbeugs auf und ab flaniert, aber sich bisher davor gehütet hat, an einen Fremden das Wort, das deutsche Wort zu richten.
»Ah, der Herr Fotograf! Hamma vielleicht ein paar Aufnahmen gemacht? Doch nicht etwa von den toten Juden?«, fragt er, ohne in irgendeiner Form zuerst zu grüßen.
»Wie kommen Sie darauf?«, antwortet Klemens Markus, der auf diese unvermittelte Anrede keinesfalls gefasst war.
»Ich hab mir halt nur so gedacht. Mit dem ganzen Gatsch an Ihren Schuhen … Und in der Gärtnerei hat man Sie heute auch nicht gesehen, und mit diesem Rucksack werden Sie wohl nicht hamstern gewesen sein.«
»Ich meine …«, meint Markus unsicher.
»Wollen Sie mir die Fotos geben, den Film meine ich? Oder verkaufen? Dann wären sie weg und niemand käme deswegen in die Bredouille«, zischt der Alte plötzlich.
»Ich verkaufe nichts«, wehrt sich der Fotograf.
»Aha, also doch!«, triumphiert der Beamte. »Haben Sie also doch Fotos von den Juden gemacht. Ich wusste es ja!«
»Nix da! Sie spinnen ja, mit Verlaub!«, wehrt sich Markus und ist mit ein, zwei Schritten an dem Mann, der alles sieht und alles hört im Ort, vorbei. Sorgen macht er sich trotzdem. Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen?, fragt er sich. Und was ist, wenn die Nazis hier darauf kommen, dass ich diese Fotos habe? Um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, geht er am Haus seiner Vermieter vorbei und schlägt die Richtung zum Gasthaus
Zum Goldenen Ochsen
ein. Sein dünnes Kriegsbier wird er dort wie immer mit Glühlampen bezahlen, Ware in Vorkriegsqualität, von denen er wie immer eine ganze Menge in seinem Rucksack mit sich führt.
»Wie schreibt man Mezötúr? Buchstabieren Sie bitte!«
Revierinspektor Franz Winkler sitzt nervös hinter einem wuchtigen, altdeutschen Schreibtisch in dem kleinen Dienstzimmer des stellvertretenden Kommandanten des Gendarmeriepostens Persenbeug und schreibt mit Bleistift in Druckbuchstaben auf einen großen Bogen Konzeptpapier. Hinter ihm an der weiß gekalkten Wand hängt ein Brustbild des Reichskanzlers Adolf Hitler im dunklen, bürgerlichen Anzug. Im Übrigen ist der Raum karg, enthält sonst nichts weiter als einen gusseisernen Kleiderständer, einen hohen, verschlossenen Aktenschrank, einen einfachen, so genannten Parteienstuhl aus ungehobeltem Holz und einen Fliegenfänger, einen langen, mit Leim beschichteten Papierstreifen, der von der Decke hängt.
»M wie Martha, E wie Emil, Z wie Zeppelin, Ö wie öd, T wie Theodor, U wie Undine, R wie Rudolf – Mezötúr«, antwortet Dr. Henrik Weisz, der vor 55 Jahren in dieser ungarischen Kleingemeinde geboren wurde und jetzt vielleicht noch nervöser ist als der ihn vernehmende Gendarm.
Revierinspektor Winkler hat sich auf seinen Schreibtisch eine wuchtige alte Remington, die Dienstschreibmaschine des Postens, stellen lassen. Die Vernehmungsprotokolle wird er nicht einem Untergebenen in die Maschine diktieren, sondern selbst tippen. Da darf nichts schiefgehen, denkt er, womöglich entscheiden diese Papiere über Leben und Tod.
Mit Durchschlag hat er bereits den Anfang der Vernehmungsniederschrift vom 3. Mai 1945 in die Maschine gehackt, wobei er nur mit den Zeigefingern, dafür aber recht rasch tippt:
Einvernommen wurde am hiesigen Posten der im Judenlager Persenbeug wohnhaft gewesene Dr. Heinrich Weiß und gibt mit dem Gegenstand der Vernehmung bekannt gemacht und zur Wahrheit ermahnt, folgendes an:
Nachdem die korrekte Schreibweise von Mezötúr geklärt ist, kann der Revierinspektor mit Blick auf seine Notizen auf dem Konzeptpapier nun auch gleich das Nationale, also die Angaben zur Person des Befragten in die Maschine tippen:
Dr. Heinrich Weiß, Mediziner, am 11. 2. 1890 in Mezötúr, Komitat Szolnok, Ungarn, geb., in Mezötúr wohnhaft gewesen, zuletzt im Judenlager 21 in Wien wohnhaft gewesen, ung. Staatsbürger, mosaisch, Dr. d. Medizin, verh., Ehegattin Olga, geb. Ritter, Eltern heissen Josef und Katharina, geb. Steiner
.
Nachdem das erledigt ist, befragt der Revierinspektor den Zeugen zur Sache.
»Sie wissen ja, dass ich im Lager in einem kleinen Raum zirka 30 Schritte abseits der Hauptbaracken gemeinsam mit meiner Frau und meiner Schwester Szeréna Weiß untergebracht war. Wir haben in der letzten Nacht tief und fest geschlafen und weder einen Schuss noch sonst etwas Verdächtiges gehört«, antwortet Dr. Weisz.
»Wann und von woher sind Sie nach Persenbeug gekommen?«, fragt der Revierinspektor weiter.
»Von Wien. Wir wurden aus Ungarn
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