2235 - Todesspiele
schirmten die Bühne von der Menge ab. Auch an den Seiten und Ausgängen waren bewaffnete Cops postiert, um jeden Aufruhr im Keim zu ersticken.
Kellborn bewunderte seine Leute für ihr Pflichtbewusstsein, ihre Disziplin. Selbst in dieser desolaten Lage verrichteten sie ihren Dienst. Niemand desertierte, niemand brach unter der ungeheuren Nervenanspannung zusammen. Er war stolz auf seine Männer.
Das Raunen und Murmeln im Saal wurde lauter, und Kellborn dämmerte, dass er nicht mehr länger warten durfte. Er musste das Unvermeidliche tun, es hinter sich bringen und beten, dass es nicht zu einem Aufstand kam, zu einem kollektiven Ausbruch der Gewalt, aus Wut und Hoffnungslosigkeit geboren.
„Heute Morgen", sagte er laut in das Feldmikrofon, das seine Stimme verstärkte und wie Donnergrollen durch den Ballsaal hallen ließ, „wurde der Notruf, den wir seit sechs Monaten abstrahlen, endlich erhört."
Ein kollektives Seufzen ging durch die Menge. Begeisterte Rufe wurden laut, Freudenschreie gellten.
Wildfremde Menschen fielen einander in die Arme, hysterisches Gelächter stieg auf. Kellborns Miene blieb ausdruckslos. Er hob gebieterisch seine Cyborghand, und nach einigen Sekunden legte sich die Unruhe, wich stummer, atemloser Spannung. „Ein Raumschiff der Springer hat unseren Notimpuls empfangen und die Station angesteuert. Es befindet sich jetzt im Hangardeck."
Wieder brandeten Freudenschreie auf, Stimmengewirr erfüllte den Ballsaal wie das Summen eines Insektenschwarms.
„Es ist die TENKIM-III-C", fuhr Kellborn durch den Lärm fort, „ein Experimentalschiff, auf dem Design eines Springerbeiboots basierend."
Die Freudenschreie wurden leiser. Gesichter, die soeben noch vor Glück geleuchtet hatten, verdüsterten sich in plötzlichem Begreifen.
„Das Beiboot", fügte der Kommandant unerbittlich hinzu, „bietet Platz für vierzig Personen. Acht Crew-Mitglieder und zweiunddreißig Passagiere."
Die Menge erstarrte, während Kellborns Worte einwirkten. Er hielt den Atem an. Dies war der Moment der Wahrheit, der Moment der Entscheidung. Er wartete, doch der befürchtete Aufruhr blieb aus. Es war, als hätte das monatelange, nervenzerfetzende Warten auf Rettung alle Gefühle aufgebraucht, als hätte Lähmung die Menge befallen, aus der resignierenden Erkenntnis des unvermeidlichen Untergangs geboren.
Dann gellte aus der Mitte der Menge eine Stimme. „Wo ein Schiff ist, muss es noch mehr geben!
Wann werden die anderen Schiffe eintreffen?"
Kellborn schüttelte müde den Kopf. „Es gibt keine anderen Schiffe. Der Hyperimpedanz-Schock hat sämtliche modernen Hyperaggregate lahm gelegt. Der Raumflugverkehr im Lepso-Sektor ist zusammengebrochen. Und soweit wir wissen, ist in der gesamten Milchstraße die Raumfahrt zum Erliegen gekommen. Die TENKIM-III-C ist alles, war wir haben."
Seine Worte trafen die Bewohner der Raumstation wie Keulenschläge. Jetzt brach sich ihre Verzweiflung Bahn, ihre Hilflosigkeit. Schreie und Tränen, Tränen und Schreie. Einige stürzten zu Boden, als hätte der Schock ihnen alle Kräfte geraubt, andere standen einfach da, statuengleich, eingefroren in kaltem Entsetzen.
Wieder hob Kellborn die Hand, und als der Lärm im Saal andauerte, zog er seinen Thermostrahler und schoss in die Decke. Die zischende, blendende Entladung des Energieblitzes verschaffte ihm die Aufmerksamkeit, die er brauchte. Es wurde leiser im Saal, auch wenn hier und dort die unkontrollierten Schluchzer, die Schreie der Verzweiflung anhielten.
„Vierzig Plätze für über eintausendzweihundert Personen", sagte er. „Irgendjemand muss über euer Leben und euren Tod entscheiden. Ich bin der Kommandant, also liegt die Entscheidung bei mir."
„In fünfzig Lichtjahren Entfernung liegt Rhanya, ein Vorposten der LFT", rief jemand. Kellborn folgte dem Klang der Stimme und sah Jerome, den kleinen, dickbäuchigen Direktor des Weißen Casinos. Er fuchtelte mit den Armen. „Vielleicht können wir die Station nach und nach evakuieren. Mit dreißig Flügen könnten wir alle retten."
„Die TENKIM-III-C ist ein Experimentalschiff", erwiderte Kellborn. „Sie verfügt nur über einen veralteten Linearantrieb. Sie braucht mindestens zwei Tage, um Rhanya zu erreichen. Und in zwei, spätestens drei Tagen wird die Station in die Sonne stürzen. Es tut mir Leid", fügte er heiser hinzu. „Aber es bleibt nur Zeit für einen Flug."
Er sah, wie der Casino-Direktor in sich zusammensank, wie der Funke der Hoffnung erlosch, der
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