2249 - Die Blutnacht von Barinx
aufgeplatzt.
Rindenfasern spannten sich noch quer über den Riss. „Orrien? - Orrien Alar!"
Das Wimmern erklang irgendwo über ihr. Ein knackendes, splitterndes Geräusch folgte. „Orrien, was ist los?"
Sie hörte den Hüter des Baumes, doch sie hätte nicht zu sagen vermocht, wo er herabkletterte. Unvermittelt stand er neben ihr. „Du siehst das nicht?" Seine Stimme klang unglaublich schwermütig. „Die Rinde ist aufgeplatzt", stellte Lyressea fest.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass Orrien Alar einen doppelt armdicken Ast umklammert hielt.
Bleiches Moos überwucherte das Holz. „Abgestorben. Totes Leben. Viele Äste verlieren den Saft."
Wäre der Riss im Stamm nicht gewesen, Lyressea hätte keine Veränderung bemerkt.
Der Gärtner knarzte wie überbeanspruchtes Holz. „Sehen kannst du es noch nicht. Seit einer Ewigkeit ist kein Ast verdorrt."
„Vielleicht ist der Baum zu alt."
Orrien Alars weit auseinander stehende Augen glitzerten wie Kristallstaub. Er schwieg. „Oder die Wurzeln finden keinen Platz mehr und zu wenig Nahrung. Die Kavernen unter dem Dom behindern sie."
Orriens Leib schien sich zu strecken, als wolle er den morschen Ast umfließen. Er verändert sich ebenfalls, schoss es Lyressea durch den Sinn. Sie entsann sich, dass Mutter und sch'Lerief, die beiden ältesten Schutzherren, die sie gekannt hatte, vom ewigen Gärtner als einem Veränderlichen gesprochen hatten. Orrien Alar alterte, doch anstelle des Todes durchlief er seltsame Metamorphosen, die ihn hin und wieder leicht verändert erscheinen ließen. „Spürst du nichts?" Ein gequältes Seufzen verwehte mit dem Wind. „Der Orden verfällt wie seine Moral. Ein furchtbarer Zustand. Uralt Trummstams Tod wird das Ende sein."
Sokhas war ein stämmiger Mann. Er überragte Lyressea um eine Handspanne, wobei sein extrem lang gestreckter Schädel den Größenunterschied bewirkte. Die kurzen und stämmigen Beine hatten jeweils zwei Kniegelenke, deshalb wirkten seine Bewegungen stelzend. Auch seine Arme konnte er mit zwei Gelenken in praktisch jede Richtung bewegen, und die langen, dünnen Tentakelfinger verliehen ihm eine außergewöhnliche Geschicklichkeit.
Sokhas' Heimat war eine alte Welt im galaktischen Kernbereich. In wenigen zehntausend Jahren würde das System der unersättlichen Gier des großen Black Hole anheim fallen.
Die Zahl der Schutzherren war auf ein Minimum geschrumpft. Mittlerweile waren sie nur noch drei. Deshalb tat es gut zu wissen, dass eine neue Weihe bevorstand. „Wenn die alte Existenz endet, wird eine neue geboren", hatte Sokhas vor wenigen Tagen gesagt. „Nichts in diesem Kosmos geschieht ohne Sinn und Ziel. Gimgon hat mich gefunden, damit ich mich in den Dienst des Ordens stelle. Ich zögere nicht, obwohl es schlechte Zeiten sind."
Morgen war der Tag der Weihe.
Lyressea schlief in dieser Nacht schlecht. Sie träumte vom Nocturnenstock Satrugar und von Gon-Orbhon, und sie erwachte schweißgebadet und mit dem beängstigenden Gefühl, dass Gon-Orbhon versucht hatte, sie auf seine Seite zu ziehen. „Niemals!" Wie einen Fluch stieß sie das hervor. „Wenn du kämpfen willst, Gon-Orbhon, ich bin bereit. Besser unser Blut fließt als das von Unschuldigen."
Ihr Unbehagen wuchs sogar noch, als sie Sokhas in Begleitung ihrer Schwester Catiaane und ihres Bruders Eithani in seiner Unterkunft abholte.
Etwas hatte sich verändert.
Düster zeichnete sich der Dom Rogan gegen den bewölkten Morgenhimmel ab. Eine bedrückende Stimmung schien über der Insel zu liegen. Weit in der Ferne startete ein Wurf elraumer der Kybb und stieg auf Flammensäulen in den Himmel. Seit Wochen hatte Lyressea auf Tan-Jamondi II keinen Raumer der Kybb mehr gesehen.
Jäh blieb Lyressea stehen. Die Ausstrahlung des Domes, dieser Hauch von Leben, den das Paragonkreuz verbreitete, war verschwunden.
Das Funkgerät, das sie als Brosche an ihrer Kleidung trug, sprach in dem Moment an. „Ich habe eine schreckliche Neuigkeit für dich, für uns alle." Das war Gimgons Stimme.
Sie vibrierte vor Erregung.
Die anderen waren weitergegangen, aber nun wandten sie sich zu ihr um. „Etwas Furchtbares ist geschehen", sagte Lyressea. „Das Paragonkreuz hat den Dom Rogan verlassen!"
Und niemand hatte eine Erklärung dafür.
Das Verschwinden des Paragonkreuzes schien nur der Auftakt zu einer nicht mehr enden wollenden Serie von Anschlägen auf den Orden der Schutzherren zu sein.
Raumschiffe verschwanden spurlos oder wurden Wochen nach dem Abbruch jedes
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