23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
denn, hinauszutreten in den Schlund, wo jeder Menschengeist den festen Halt verliert?“
„Gab es denn einen anderen Weg ins Freie?“ fragte er. „Der Eingang war verschwunden!“
„Auch ich sah ihn nicht mehr. Doch wußte ich, daß er sich dem Gebet zeigen werde, auf welches mich der Warnende verwies. Hat er nicht auch zu euch davon gesprochen?“
„Er sagte es, doch beteten wir nicht!“
„Warum nicht?“
„Ist das Gebet für so erhabene Geister, die wir waren?“
„Für so erhabene Geister! Ach so! Entschuldigt mich! Verzeiht, daß ich, der arme, kleine Mensch, es wage, zu euch zu sprechen, die ihr so erhaben seid, daß ihr nicht einmal mehr mit Gott, dem Höchsten, redet! Wie sehe ich euch doch so groß und herrlich hier in den Fluten eures Irrsinns liegen! Ihr kamt mit Überhebung zu dem Berg, gingt stolz erhobenen Hauptes durch die Schatten und hobt in selbstbewundernder Vermessenheit den Fuß, auch noch die letzte Türe zu durchschreiten. Und nach dem Sturz in dieses Geistesdunkel, was tatet ihr? Was habt ihr unternommen? Ihr wurdet von dem Warnenden auf das Gebet verwiesen. Es hätte euch sofort das Licht gebracht. Habt ihr gebetet? Nein, geflucht, geflucht! Und wem habt ihr geflucht? Etwa dem eignen Wahnsinn, der euch stürzte? Nein, sondern denen, die sich wehren mußten, weil ihr es ihnen nicht einmal erlaubtet, zu bleiben, was sie waren – – – arme Schatten! Ist einer unter euch, der etwa glaubt, sich gegen mich verteidigen zu können?“
Es blieb eine Weile still; dann sagte das Gerippe:
„Du wirfst uns vor, daß wir nicht beteten, damit der Eingang sich uns wieder öffne. Sag betetest denn du?“
„Nein.“
„Hast also ganz dasselbe unterlassen und darum nicht das Recht, uns anzuklagen!“
„Ich unterließ es nicht; ich kam nur nicht dazu. Mich führten überhaupt ganz andre Gründe als euch in dieses drohende Gemäuer. Ich kam nicht, zu verderben, nein, sondern zu erretten! Auch hatte ich das Ende wohl bedacht und war nicht so verrückt, die Bodenlosigkeit für festen Grund zu halten. Ich habe alles, was ich sah, studiert, kalt und gemessen, wohlbedacht und ruhig. Und eben als ich damit fertig war, erschien der Zauberer und – – –“
„Du erschrakst und sprangst herab zu uns!“ fiel das Gerippe schnell ein.
„Nein. Ich blieb stehen, ließ ihn herankommen und sprach mit ihm.“
„Du bliebst – – – stehen? Du sprachst – – – sprachst mit ihm? Das hat keiner, keiner, kein einziger von uns gewagt! Hast du denn nicht gewußt, daß dieser Zauberer der Wahnsinn ist? Auf wen sein fürchterliches Auge fällt, der wird verrückt, verrückt – – – sofort verrückt! Wir alle, alle flohen, als er von fern erschien, und das Entsetzen trieb uns hier herunter. Und du bliebst stehen! Hast gar mit ihm gesprochen! Mensch, solche Kühnheit ward noch nicht gesehen!“
„Da wiederhole ich: Ihr armen, armen Geister! Wo bleibt da die Erhabenheit, wenn jeder Unsinn sie in Wahnsinn stürzt!“
„Du kamst doch auch herab!“
„Jawohl, ich kam. Doch aber nicht vor Schreck! Ich sprang aus freiem Willen, ganz ohne Zwang herunter, damit er sehen möge, daß ich nicht ihn und auch den Tod nicht fürchte.“
„Selbst – selbst – – – selbst heruntergesprungen!“ stieß das Gerippe hervor, und das Wasser, in dem es lag zitterte, als ob an und in dem Skelett alles in Erschütterung sei.
„Selbst – selbst – – – selbst heruntergesprungen!“ so klang es von Kopf zu Kopf bis weit hinaus ins vordere Gewölbe.
„Er fürchtet nicht den Tod!“ sagte das Gerippe.
„Nicht den Tod – nicht den Tod – – – nicht den Tod!“ ertönte es hinter ihm weiter und weiter.
„Warte, warte, warte! Wir kehren bald zurück!“
Diese Worte galten mir. Dann setzte sich die ganze Schar in unerwartet schnelle Bewegung um aus dem hinteren Wasserbecken zu verschwinden. Durch das vordere aber ging ein Flüstern, Raunen, Murmeln und Summen wie von vielen Tausenden, die nicht auf dem Wasser, sondern unten auf dem tiefen Grund miteinander sprachen. Nach einiger Zeit kehrten sie wieder, genauso, wie sie zuerst gekommen waren. Das Gerippe nahm seine alte Stellung dem Sockel gegenüber ein und sprach:
„Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag an dem er aus dem dunkeln Schatten der Erde tritt, um wieder ihr zu leuchten. Und dieser Tag so hoffe ich, soll auch uns das wiederbringen, was uns die Erde nahm, der Sonne goldenes Licht! Du hörst, ich
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