23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
handelte sich also nur darum, den Mittelverschluß zu öffnen, ohne daß dies später zu entdecken war. Als ich das den beiden andern mitteilte, bat der Peder mich um den Brief. Er bekam ihn, hielt ihn auch gegen das Licht, griff mit dem Zeigefinger erst rechts, dann links in den Umschlag und sagte lachend:
„Wo sich Gelehrte vergeblich die Köpfe zerbrechen, da findet der ungelehrte Mutterwitz sofort das Richtige. Ich mache auf, ohne ein Siegel anzurühren!“
Er zog auf der einen Seite den nach innen geschlagenen Teil des Umschlags heraus, schob hierauf zwei Finger hinein und brachte das Schreiben hervor. Der Ustad lachte, und ich stimmte ein. Der Peder aber sagte ernst:
„Hier zeigt sich wieder einmal, wie wenig sich der Böse auf den Bösen verlassen kann. Und wenn der Ungerechte seine Absichten sogar fünfmal versiegelt, sie kommen trotzdem an den Tag und zwar infolge seines eigenen Leichtsinns und seiner Unvorsichtigkeit!“
Wir schlugen das Schreiben auf. Wir waren fast begierig es zu lesen. Wir taten das zu gleicher Zeit, ich mit meinem Kopf ganz neben dem des Ustad. Aber schon nach kurzer Zeit erhob er den seinen, ich den meinen. Wir sahen einander verwundert an.
„Kannst du es lesen?“ fragte er mich.
„Nein“, antwortete ich.
„Ich auch nicht! Ist dir diese Sprache bekannt?“
„Nein.“
„Auch mir nicht! So können nur ganz wilde Geschöpfe sprechen. Aber die schreiben doch nicht!“
„Es ist Täliq-Schrift!“
„Ganz wohl! Dieselbe Schrift, von welcher wir vorhin – – –“
Er hielt mitten in der Rede inne, sprang auf, machte eine Gebärde der Überraschung und fuhr dann fort:
„Effendi, welch ein Gedanke! Wenn er richtig wäre!“
„So sprich ihn aus!“
„Diesen Brief hat ein Sill geschrieben. Du behauptest, der Multasim sei auch ein Sill und hältst ihn für den Adressaten. Wir haben vorhin bei ihm ein Täliq-Alphabet gefunden. Sollte dieses Alphabet sich etwa auf diesen Briefwechsel beziehen?“
Dieser Gedanke war zwar frappierend, aber ganz natürlich. Wir nahmen das kleine Heftchen vor, schlugen es auf und begannen zu vergleichen. Wie freuten wir uns, schon gleich bei den ersten Buchstaben zu sehen, daß der Ustad mit seiner Vermutung das Richtige getroffen hatte! Es stand in dem Heftchen ganz deutlich, wie das Schreiben, welches wir geöffnet hatten, zu lesen war. Wir hatten sehr einfach die Buchstaben so zu verwechseln, wie es dort angegeben wurde. Indem ich auf meine Umschreibung in das deutsche Alphabet zurückgreife, ist dies so zu verdeutlichen, daß ‚t‘ statt ‚a‘, ‚u‘ statt ‚b‘, ‚v‘ statt ‚c‘, ‚w‘ statt ‚d‘ usw. zu lesen war.
Der Ustad holte zwei Papierblätter, für sich eines und für mich das andere. Dann setzten wir uns hin, um die vorgeschobenen Buchstaben in die richtigen zu verwandeln. Als wir damit fertig waren, stellte es sich heraus, daß zwischen den beiden Schreiben nicht der geringste Unterschied bestand.
Nun hatten wir mit dem Sinn der Worte zugleich den Inhalt des Briefes kennen gelernt. Für den Uneingeweihten wäre er selbst jetzt nach der Entzifferung ein Rätsel geblieben. Aber so wenig wir über die Silben wußten, so war es doch genug für uns, diesen Inhalt zu verstehen. Der Brief lautete folgendermaßen:
„An Ghulam el Multasim, meinen Henker!
Es ist die Zeit gekommen, daß die Gul-i-Schiraz auf der Brust von Rafadsch Azrim zu erblühen hat. Das soll am fünften Tage des Monates Schaban geschehen, zur Zeit des Abendgebets, keine Stunde früher, keine später. Du brauchst ihn nicht zu suchen. Er wird dir zugeführt, wo es auch immer sei. Du weißt, daß ich zwar unsichtbar, doch auch allmächtig und allgegenwärtig bin! Blüht sie nicht ihm, so blüht sie sicher dir!
Der Ämir-i-Sillan.“
„Welch eine wichtige Entdeckung wir da machen!“ rief der Ustad aus, als diese Zeilen laut vorgelesen worden waren. „Wenn man doch wüßte, wer dieser Ämir-i-Sillan ist!“
„Greif nicht sofort zu hoch!“ forderte ich ihn auf.
„Wie meinst du das?“ fragte er.
„Laß uns, ehe wir Fragen aufwerfen, den Brief erst geistig anschauen! Der Inhalt ist uns verständlich; aber das, worauf er sich bezieht, kennen wir noch nicht. Wir haben es uns zu suchen, auf dem Weg des Nachdenkens. Auf den ‚Obersten der Schatten‘ können wir nur am Ende dieses Weges stoßen. Du aber willst, um ihn sofort zu finden, den ganzen Weg überspringen und machst also einen Salto mortale in das Ungewisse hinein.
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