23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Marktwirtschaft bin.
Jeder Staat hat das Recht zu entscheiden, wie viele Einwanderer er in welchen Bereichen seines Arbeitsmarktes aufnehmen will. Eine Gesellschaft hat eine begrenzte Kapazität, Immigranten zu integrieren, die häufig aus einem völlig anderen kulturellen Kontext kommen. Es wäre daher falsch, von einem Staat zu fordern, dass er über dieses Limit hinausgeht. Ein zu rascher Zustrom von Einwanderern heizt nicht nur die Rivalität um Arbeitsplätze an, sondern strapaziert auch die Infrastruktur, etwa den Wohnungsbau und das Gesundheitssystem, und führt zu Spannungen mit der einheimischen Bevölkerung. Ebenso wichtig, wenngleich nicht so leicht quantifizierbar, ist die Frage der nationalen Identität. Es ist ein zwar notwendiger Mythos, aber eben doch ein Mythos, dass ein Staat eine feste nationale Identität hat, die nicht verändert werden kann oder sollte. Wenn jedoch zu viele Immigranten auf einmal ins Land strömen, wird es für die aufnehmende Gesellschaft schwierig, eine neue nationale Identität zu formen, ohne die sich ein sozialer Zusammenhalt kaum aufrechterhalten lässt. Tempo und Ausmaß der Einwanderung müssen daher kontrolliert werden.
Trotzdem ist die derzeitige Einwanderungspolitik der reichen Länder durchaus verbesserungswürdig. Zwar kann jede Gesellschaft nur in begrenztem Maß Immigranten integrieren, doch das bedeutet nicht, dass die Gesamtbevölkerung ein bestimmtes Maß nicht überschreiten darf. Eine Gesellschaft entscheidet, ob sie sich Einwanderern mehr oder weniger öffnet, indem sie sozial und politisch die eine oder andere Haltung zur Immigration einnimmt. Auch was die Zusammensetzung der Immigranten angeht, so nehmen die meisten reichen Länder aus Sicht der Entwicklungsländer zu viele der »falschen« Leute auf. Manche Staaten verkaufen praktisch ihre Pässe, denn sie lassen Menschen, die Kapital mitbringen, mehr oder weniger ungehindert ein. Dieses System verschärft aber die Kapitalknappheit in den meisten Entwicklungsländern. Darüber hinaus tragen die reichen Länder zur Abwanderung gut ausgebildeter Kräfte aus den Entwicklungsländern bei, indem sie höher qualifizierte Zuwanderer bevorzugt ins Land lassen. Die wiederum hätten mehr zur Entwicklung ihres eigenen Landes beitragen können als ungelernte Kräfte, wenn sie in ihrem Heimatland geblieben wären.
Sind arme Länder arm, weil die Leute dort arm sind?
Die Geschichte mit dem Busfahrer entlar vt nicht nur den Mythos, nach dem jeder fair nach seinem Wert auf dem freien Markt bezahlt wird, sondern gibt auch wertvolle Einblicke in die Ursachen für die Armut in den Entwicklungsländern.
Die armen Länder, so heißt es oft, sind arm, weil die Leute dort arm sind. Oft schieben die Reichen dort die Armut ihres Landes auf die Dummheit, Faulheit und Passivität ihrer mittellosen Landsleute. Wenn ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger so fleißig wären wie die Japaner, so pünktlich wie die Deutschen und so erfindungsreich wie die Amerikaner – so würde Ihnen manch einer erklären, wenn Sie ihm zuhörten -, dann wäre auch ihr Land reich.
Arithmetisch betrachtet stimmt es, dass die armen Leute das durchschnittliche Volkseinkommen ihres Landes senken. Doch die Reichen in den armen Ländern übersehen gern, dass ihr Land nicht wegen der Armen arm ist, sondern dass sie selbst dafür verantwortlich sind. Wenn wir zum Beispiel unseres Busfahrers zurückkehren, dann ist der Hauptgrund dafür, dass Sven fünfzig Mal mehr verdient als Ram, darin zu suchen, dass er den Arbeitsmarkt mit anderen Menschen teilt, die weit über fünfzig Mal produktiver sind als ihre indischen Pendants.
Obwohl das Durchschnittseinkommen in Schweden etwa fünfzig Mal höher ist als das Durchschnittseinkommen in Indien, sind nicht sämtliche Schweden fünfzig Mal produktiver als ihre indischen Kollegen. Viele von ihnen, Sven eingeschlossen, sind ihnen fachlich wahrscheinlich sogar unterlegen. Doch ein paar Schweden – Topmanager, Wissenschaftler und Ingenieure in Konzernen wie Ericsson, Saab und SKF – sind viele hundert Mal produktiver als ihre indischen Kollegen. Deshalb ist die durchschnittliche Produktivität Schwedens am Ende eben doch etwa fünfzig Mal so hoch wie die Indiens.
Mit anderen Worten: Die armen Leute aus armen Ländern können mit ihren Kollegen in reichen Ländern durchaus Schritt halten. Nicht so die Reichen aus den armen Ländern. Es ist ihre relativ niedrige Produktivität, die ihr Land arm macht. Deshalb sind
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