23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
reduzierten die für den Haushalt nötige Arbeitskraft, ermöglichten es Frauen, in den Arbeitsmarkt einzutreten, und machten Hausangestellte praktisch überflüssig. Wir sollten beim Blick in die Vergangenheit nicht »falsch herum durchs Fernrohr sehen« und frühere gegenüber den jüngsten Veränderungen unterschätzen. Tun wir das, so lassen wir uns zu allen möglichen Fehlentscheidungen in der nationalen Wirtschaftspolitik, der Unternehmensführung und der eigenen Karriere verleiten.
Hat in Lateinamerika jeder ein Hausmädchen?
Einer amerikanischen Freundin zufolge stand in dem Spanischschulbuch, das sie in den Siebzigerjahren hatte, der Satz (auf Spanisch natürlich): »In Lateinamerika hat jeder ein Hausmädchen.«
Wenn man darüber nachdenkt, ist das logisch unmöglich. Haben Hausmädchen in Lateinamerika auch Hausmädchen? Vielleicht gibt es ja eine Art Hausmädchenaustausch, von dem ich bisher noch nichts gehört habe, bei dem sich Hausmädchen gegenseitig als Hausmädchen aushelfen, damit jede ein Hausmädchen haben kann. Nein, das glaube ich nicht.
Es ist natürlich einsichtig, wie amerikanische Autoren zu so einer Aussage kommen. In den armen Ländern hat ein erheblich höherer Anteil der Bevölkerung ein Hausmädchen als in den reichen. In einem reichen Land würde ein Schullehrer oder eine junge Managerin in einer kleinen Firma nicht im Traum daran denken, ein Hausmädchen einzustellen, während ihre Pendants in den armen Ländern sehr wahrscheinlich eins haben, vielleicht sogar zwei. Zahlen sind nur schwer zu beschaffen, doch der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zufolge sind in Brasilien schätzungsweise 7 bis 8 Prozent der Beschäftigten und in Ägypten 9 Prozent Hausangestellte. Die entsprechenden Zahlen liegen in Deutschland bei 0,7 Prozent, in den USA bei 0,6 Prozent, in England und Wales bei 0,3 Prozent, in Norwegen bei 0,05 Prozent und in Schweden sogar nur bei 0,005 Prozent; die Zahlen stammen alle aus den Neunzigerjahren, ausgenommen Deutschland und Norwegen, die aus diesem Jahrzehnt sind. 1 Proportional gibt es in Brasilien demnach zwölf bis dreizehn Mal so viele Hausangestellte wie in den USA und in Ägypten 1800 Mal so viele wie in Schweden. Kein Wunder, dass viele Amerikaner glauben, in Lateinamerika habe »jeder« ein Hausmädchen, und dass ein Schwede in Ägypten das Gefühl hat, dass es im Land vor Dienstboten nur so wimmelt.
Interessanterweise war der Anteil der Hausangestellten an der Erwerbsbevölkerung in den reichen Ländern einst ähnlich hoch wie in den Entwicklungsländern heute. In den USA waren 1870 8 Prozent der Beschäftigten Hausangestellte. Auch in Deutschland lag der Anteil bis in die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts bei 8 Prozent, fiel jedoch anschließend rasch ab. In England und Wales, wo sich die »Dienstbotenkultur« mit der Gutsherrenschicht länger hielt als in anderen Ländern, war der Anteil noch höher: 10 bis 14 Prozent der Erwerbsbevölkerung waren zwischen 1850 und 1920 (mit einigen Schwankungen) als Hausangestellte beschäftigt. Wenn man Agatha Christies Kriminalromane aus den Jahren bis 1940 liest, fällt auf, dass nicht nur der Pressebaron, der in seiner verschlossenen Bibliothek ermordet wird, Dienstboten hat, sondern auch die nicht eben reiche Jungfer aus der Mittelschicht. Letztere hat allerdings vielleicht nur ein Dienstmädchen, das sich auf einen Tunichtgut von Mechaniker einlässt – wie sich herausstellt, der uneheliche Sohn des Pressebarons – und auf Seite 111 ebenfalls ermordet wird, weil sie dumm genug war, etwas auszuplaudern, das sie nicht hätte sehen dürfen.
Dass es (anteilig) in den reichen Ländern viel weniger Hausangestellte gibt, liegt angesichts der kulturellen Unterschiede zwischen Ländern mit ähnlichem Einkommensniveau heute und in der Vergangenheit an den relativ hohen Lohnkosten. Mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung werden Menschen (oder vielmehr die Arbeitskraft, die sie anbieten) relativ betrachtet teurer als »Sachen« (siehe auch Nr. 9). Deshalb ist in reichen Ländern die Dienstbotentätigkeit zu einem Luxusgut geworden, das nur die sehr Reichen sich leisten können, wohingegen sie in Entwicklungsländern noch so billig ist, dass sogar die untere Mittelschicht sie in Anspruch nehmen kann.
Waschmaschine schlägt Internet
Verglichen mit den Veränderungen, die Waschmaschine und Konsorten mit sich gebracht haben, war der Einfluss des Internets, das, wie viele meinen, die Welt verändert hat,
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