23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
als Sven. Nach schwedischem Maßstab ist Sven natürlich ein guter Fahrer, aber musste er jemals einer Kuh ausweichen, wie Ram es regelmäßig tut? Sven fährt überwiegend geradeaus, von ein paar Ausweichmanövern samstagnachts einmal abgesehen, wenn ihm betrunkene Fahrer in die Quere kommen. Ram dagegen muss sich praktisch jede Minute seinen Weg durch Ochsenkarren, Rikschas und drei Meter hoch mit Kisten beladene Fahrräder bahnen. Nach der Logik des freien Marktes müsste Ram also mehr verdienen als Sven, nicht andersherum.
Diesem Einwand würde der Verfechter der freien Marktwirtschaft mit dem Hinweis darauf begegnen, dass Sven mehr verdient, weil er ein größeres »Humankapital« mitbringt, also Fertigkeiten und Wissen, das er durch Schule und Ausbildung angesammelt hat. In der Tat hat Sven sehr wahrscheinlich zwölf Schuljahre durchlaufen und einen höheren Schulabschluss absolviert, während Ram nach fünf Jahren Grundschule in seinem Dorf in Radjastan kaum lesen und schreiben kann.
Doch Svens Humankapital, das er sich in den zusätzlichen sieben Schuljahren angeeignet hat, ist für das Busfahren überwiegend irrelevant (siehe Nr. 17). Er braucht nichts über die menschlichen Chromosomen oder den Russisch-Schwedischen Krieg von 1809 zu wissen, um gut Bus zu fahren. Svens zusätzliches Humankapital erklärt demnach nicht, warum er fünfzig Mal so viel verdient wie Ram.
Offen gesagt: Es liegt am Protektionismus: Schwedische Arbeiter werden durch Einwanderungsbeschränkungen vor Konkurrenz aus Indien und anderen armen Ländern geschützt. Eigentlich gibt es ja keinen Grund, warum schwedische Busfahrer oder sämtliche anderen Beschäftigten in Schweden oder einem anderen reichen Land nicht durch Inder, Chinesen oder Ghanaer ersetzt werden könnten. Die meisten Ausländer wären mit einem Bruchteil des Arbeitslohns zufrieden, den Schweden erhalten, und alle wären durchaus in der Lage, ebenso gute Arbeit abzuliefern, wenn nicht bessere. Und das betrifft nicht nur gering qualifizierte Arbeitskräfte wie Reinigungspersonal oder Straßenkehrer. Da draußen in Shanghai, Nairobi und Quito gibt es Heerscharen von Ingenieuren, Bankfachleuten und Computerprogrammierern, die ihre Kolleginnen und Kollegen in Stockholm, Linköping und Malmö mühelos ersetzen könnten. Doch diese Menschen haben keinen Zugang zum schwedischen Arbeitsmarkt, weil die Einwanderungsbeschränkungen sie an einer Übersiedlung nach Schweden hindern. Aus diesem Grund können schwedische Beschäftigte fünfzig Mal höhere Löhne verlangen als indische, obwohl viele von ihnen keine höhere Produktivität erbringen als ihre indischen Kollegen.
Für das Offensichtliche sind wir blind
Die Geschichte von den Busfahrern ist ein typisches Beispiel dafür, dass wir das Offensichtliche gern leugnen. Sie illustriert, dass der Lebensstandard der großen Mehrheit von Menschen in den reichen Ländern entscheidend davon abhängt, dass ihr Arbeitsmarkt mit drakonischen Maßnahmen geschützt wird: der Einwanderungskontrolle. Doch für die einen sind diese Regelungen unsichtbar, und die anderen übersehen sie geflissentlich, wenn sie über die Vorzüge des freien Marktes reden.
In Nr. 1 habe ich bereits dargelegt, dass es so etwas wie einen freien Markt eigentlich gar nicht gibt. Doch am Beispiel der Einwanderungskontrolle können wir sehen, wie umfangreich die Regulierung in unseren angeblich freien Volkswirtschaften tatsächlich ist.
Während ausgiebig über Gesetze zu Mindestlöhnen, Arbeitszeiten und verschiedene andere von den Gewerkschaften erfochtene »künstlichen« Zutrittsbarrieren zum Arbeitsmarkt lamentiert wird, ist die Einwanderungskontrolle nur wenigen Ökonomen überhaupt die Erwähnung wert als eine dieser grässlichen Regeln, die den freien Arbeitsmarkt behindern. Kaum einer tritt für ihre Abschaffung ein. Dabei wäre es nur logisch, wenn die Marktliberalen eine freie Einwanderung forderten. Dass nur wenige das tun, beweist einmal mehr, was im ersten Kapitel über die Grenzen des Marktes gesagt wurde: Sie werden politisch festgelegt, und Anhänger der freien Marktwirtschaft sind ebenso »politisch« wie ihre Gegner, die die Märkte regulieren wollen.
Wenn ich den Marktliberalen Inkonsequenz in Sachen Einwanderungskontrolle vorwerfe, so will ich damit natürlich nicht für die Abschaffung dieser Regelungen plädieren. Das brauche ich auch gar nicht, weil ich (wie Sie mittlerweile vielleicht bemerkt haben) kein Anhänger der freien
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