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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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ihre Tiraden, die Armen seien schuld an der Armut ihres Landes, völlig fehl am Platz. Statt den Armen vorzuwerfen, dass sie ihr Land herunterziehen, sollten sich die Reichen der armen Länder fragen, warum sie nicht den Rest ihres Landes hochziehen können, so, wie es die Reichen in den reichen Ländern tun.
    Und schließlich noch ein warnendes Wort an die Reichen der reichen Länder, denen jetzt vor Stolz die Brust schwillt, wenn sie hören, dass ihre eigenen Armen nur dank der Einwanderungskontrolle und ihrer eigenen großen Produktivität so gut verdienen.
    Sogar in Branchen, in denen Einzelne tatsächlich produktiver sind als ihre Kollegen in einem armen Land, ist diese hohe Produktivität zu einem großen Teil dem System zu verdanken und nicht so sehr den Einzelnen. Wenn Menschen in reichen Ländern mehrere hundert Mal produktiver sind als ihre Pendants in armen Ländern, dann liegt das nicht einfach oder gar hauptsächlich daran, dass sie schlauer und besser ausgebildet sind. Der Grund ist vielmehr darin zu suchen, dass ihre Gesamtwirtschaft über hochwertigere Techniken verfügt, die Firmen eine bessere Organisation aufweisen und Institutionen sowie Infrastruktur besser sind – lauter Faktoren, die überwiegend das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen über mehrere Generationen sind (siehe Nr. 15 und 17). Der berühmte Großinvestor Warren Buffet formulierte das in einem Fernsehinter view im Jahr 1995 so: »Ich für meinen Teil glaube, dass ich einen wesentlichen Anteil dessen, was ich verdient habe, der Gesellschaft zu verdanken habe. Wenn Sie mich mitten in Bangladesch oder Peru oder irgendwo anders aussetzen würden, wären Sie überrascht, wie wenig ich mit meinem Talent auf dem falschen Terrain bewirken könnte. Ich würde noch dreißig Jahre später darum kämpfen, auf die Füße zu kommen. Ich bin in einem Marktsystem tätig, das zufällig das, was ich tue, sehr gut belohnt – unverhältnismäßig gut.«
    Damit sind wir wieder an unserem Ausgangspunkt. Das Einkommen des Einzelnen spiegelt nicht vollständig wider, was er oder sie wert ist. Die meisten Menschen in armen und reichen Ländern verdanken die Höhe ihrer Bezahlung der Einwanderungskontrolle. Und sogar die Bürgerinnen und Bürger reicher Länder, die sich nicht so leicht durch Immigranten ersetzen lassen, von denen man also sagen könnte, dass sie ihrem Wert entsprechend bezahlt werden (oder auch nicht – siehe Nr. 14), verdanken ihre Produktivität dem sozioökonomischen System, in dem sie wirken. Es liegt nicht nur an ihrem Genie oder harter Arbeit, dass sie so produktiv sind.
    Die gern kolportierte Behauptung, wenn man die Märkte in Ruhe ließe, würde jeder korrekt und damit fair nach seinem Wert bezahlt, ist ein Mythos. Nur wenn wir uns von diesem Mythos verabschieden und die politische Natur des Marktes sowie die kollektive Natur der individuellen Produktivität begreifen, werden wir in der Lage sein, eine gerechtere Gesellschaft zu formen, in der nicht nur Können und Einsatz des Einzelnen, sondern auch historische Vermächtnisse und kollektives Handeln hinreichend für die Höhe der jeweiligen Entlohnung herangezogen werden.

Vier: Die Waschmaschine war revolutionärer als das Internet.

Was sie uns erzählen

    Die jüngste Revolution in der Kommunikationstechnik, repräsentiert durch das Internet, hat den Lauf der Welt fundamental verändert. Sie hat den »Tod der Distanz« herbeigeführt. In der so entstandenen »Welt ohne Grenzen« haben die alten Konventionen über nationale Wirtschaftsinteressen und die Rolle der Nationalstaaten ihre Gültigkeit verloren. Diese technische Revolution definiert das Zeitalter, in dem wir leben. Wenn Staaten oder Unternehmen oder auch der einzelne Mensch nicht entsprechend schnell mitziehen, werden sie untergehen. Wir – als Einzelne, als Unternehmen, als Staat – müssen immer flexibler werden, und das setzt eine größere Liberalisierung der Märkte voraus.

Was sie uns verschweigen

    Wir neigen dazu, immer das, was sich als Letztes verändert hat, als revolutionär zu betrachten. Das beißt sich jedoch häufig mit den Fakten. Der jüngste Fortschritt in der Telekommunikationstechnik ist im Verhältnis nicht so revolutionär wie eine Neuerung, die schon Ende des 19. Jahrhunderts auftrat: die Telegrafie. Betrachtet man die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, so war das Internet (zumindest bisher) auch nicht so revolutionär wie die Waschmaschine. Sie und andere Haushaltsgeräte

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