23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
zu ignorieren, wäre eine riskante Sache
Carlos Ghosn lebt die Globalisierung
Carlos Ghosn wurde 1954 als Sohn libanesischer Eltern in der brasilianischen Stadt Porto Velho geboren. Im Alter von sechs Jahren zog er mit seiner Mutter nach Beirut. Nachdem er dort die Schule abgeschlossen hatte, ging er nach Frankreich und erwarb an zwei der prestigeträchtigsten Institutionen des Landes, der École Polytechnique und der École des Mines de Paris, Ingenieurabschlüsse. In den 18 Jahren, die er ab 1978 für den französischen Reifenhersteller Michelin arbeitete, erwarb sich Ghosn den Ruf eines effektiven Managers: Er baute das profitable Südamerikageschäft des Konzerns auf und brachte die Fusion mit dem US-Tochterunternehmen Uniroyal Goodrich, mit der sich die Größe des Konzerns in den USA verdoppelte, zum erfolgreichen Abschluss.
Im Jahr 1996 wechselte Ghosn zum staatlichen französischen Autobauer Renault und forcierte die Erneuerung des Unternehmens. Dadurch festigte er seinen Ruf als schonungsloser Kostensenker, was ihm den Beinamen »Kostenkiller« einbrachte, obwohl er in Wahrheit viel stärker das Einvernehmen suchte, als dieser Spitzname es nahelegt. Als Renault 1999 den defizitären japanischen Autohersteller Nissan erwarb, wurde Ghosn nach Japan entsandt, um die Firma wieder in Schwung zu bringen. Zunächst stießen seine für Japan ungewöhnlichen Managementmethoden, etwa die Entlassung von Arbeitern, auf hartnäckigen Widerstand, doch in wenigen Jahren brachte er die Firma wieder auf Spur. Danach war er bei den Japanern dermaßen angesehen, dass er in Comics zu einer Manga -Figur verarbeitet wurde, was in Japan so ähnlich ist wie die Seligsprechung in der katholischen Kirche. Im Jahr 2005 überraschte er die Welt erneut, indem er als CEO und Präsident zu Renault zurückkehrte, gleichzeitig aber Co-Chairman bei Nissan blieb – vergleichbar einem Fußballtrainer, der zwei Mannschaften gleichzeitig betreut.
An Carlos Ghosns Lebensgeschichte lässt sich die gesamte Dramatik der Globalisierung ablesen. Die Menschen ziehen, wie Ghosns Familie, auf der Suche nach einem besseren Leben manchmal buchstäblich ans andere Ende der Welt. Einige Migranten kehren wie Ghosns Mutter dann wieder nach Hause zurück. Das ist eine völlig andere Situation als zu der Zeit, da sich beispielsweise italienische Immigranten weigerten, ihren Kindern Italienisch beizubringen. Sie wollten nie in ihr Heimatland zurückkehren und achteten deshalb darauf, dass sich ihre Kinder vollständig assimilierten. Heute gehen viele junge Leute aus ärmeren Ländern, die Ehrgeiz und Köpfchen haben, zum Studium in reichere Länder, wie Ghosn es tat. Manager treten in die Dienste eines ausländischen Konzerns, leben und arbeiten aber wieder in einem anderen Land (oder zwei), weil ihr Arbeitgeber weltweit tätig ist. Ghosn, der libanesische Migrant mit Zwischenstopp in Brasilien, arbeitete für zwei französische Konzerne in Brasilien, den USA und Japan.
In dieser globalisierten Welt, so hört man oft, sei die Herkunft des Kapitals einerlei. Ein Konzern hat zwar in einem bestimmten Land seinen Ursprung und Firmensitz, doch er ist jenseits sämtlicher Staatsgrenzen tätig. Er verlagert seine Aktivitäten jeweils dorthin, wo der Ertrag am größten ist. So hat der Schweizer Lebensmittelgigant Nestlé zwar seinen Sitz im schweizerischen Vevey, doch nicht einmal fünf Prozent seiner Produktion kommen aus der Schweiz. Selbst wenn man als Nestlés »Heimat« nicht die Schweiz, sondern Europa betrachtet, so erzielt dieser Standort nur etwa dreißig Prozent seines Gewinns. Es sind nicht nur die eher minderwertigen Aktivitäten wie die Produktion, die Weltkonzerne im Ausland abwickeln. Auch hochwertige Bereiche wie Forschung und Entwicklung werden aus dem Stammland verlagert, zunehmend in Schwellenländer wie China und Indien. Sogar Topmanager kommen wie Ghosn aus dem internationalen Talentpool, und nicht etwa ausschließlich aus dem nationalen Arbeitsmarkt.
Folglich hat ein Unternehmen keine nationale Loyalität mehr. Es tut, was es tun muss, um den Gewinn zu steigern, auch wenn das dem Heimatland schadet, wenn beispielsweise Fabriken geschlossen, Arbeitsplätze abgebaut oder sogar ausländische Mitarbeiter eingestellt werden. Vor diesem Hintergrund, so wird oft argumentiert, sei es unklug, ausländische Beteiligungen an Firmen einzuschränken, wie es in vielen Staaten einmal üblich war. Solange ein Konzern Wohlstand und Arbeitsplätze schafft,
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