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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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Gesellschaft.
    Im wirtschaftlichen Sinn jedoch sind diese Länder durchaus nicht postindustriell. Die Fertigung spielt für die Wirtschaft noch immer eine entscheidende Rolle. Um das zu erkennen, müssen wir zunächst begreifen, warum es in den reichen Ländern zur Deindustrialisierung gekommen ist.
    Zu einem kleinen, aber nicht zu vernachlässigenden Anteil basiert die Deindustrialisierung auf gleich mehreren optischen Täuschungen, denn sie reflektiert nicht so sehr reale Veränderungen als vielmehr statistische Verschiebungen. Eine solche Täuschung hängt mit der Auslagerung von Bereichen zusammen, die von ihrer wahren Beschaffenheit Dienstleistungen sind, früher jedoch in den Industriebetrieben geleistet und demnach dem Industrieoutput zugerechnet wurden, zum Beispiel Verpflegung, Reinigung und technische Unterstützung. Wenn so etwas ausgelagert wird, steigt der Dienstleistungsoutput, ohne dass es in Wahrheit eine Zunahme gegeben hat. Zwar gibt es zum Umfang dieses Phänomens keine verlässlichen Zahlen, doch die Fachleute sind sich einig, dass das Outsourcing in den USA und in Großbritannien insbesondere in den Achtzigerjahren erheblich zu dieser Art von Deindustrialisierung beigetragen hat. Dazu kommt, dass der Rückgang der industriellen Fertigung aufgrund des sogenannten Neuzuordnungseffekts übertrieben dargestellt wird. 2 Einem britischen Regierungsbericht zufolge ist der Rückgang der industriellen Arbeitsplätze in Großbritannien zwischen 1998 und 2006 zu bis zu zehn Prozent darauf zurückzuführen, dass einige Industriebetriebe angesichts der wachsenden Bedeutung ihrer Dienstleistungsaktivitäten beim statistischen Amt beantragten, künftig als Dienstleistungsfirmen geführt zu werden, obwohl sie noch immer produzierend tätig waren.
    Eine echte Ursache für Deindustrialisierung hat erst jüngst einiges Aufsehen erregt. Es ist die Zunahme der Importe aus billig produzierenden Entwicklungsländern, insbesondere China. Doch so dramatisch diese Zahlen auch aussehen mögen – sie liefern keine hinreichende Erklärung für die Deindustrialisierung in den reichen Ländern. Die chinesischen Exporte haben sich erst Ende der Neunzigerjahre tatsächlich ausgewirkt, dabei setzte die Deindustrialisierung in den meisten reichen Ländern bereits in den Siebzigerjahren ein. Den meisten Schätzungen zufolge kann der Aufstieg Chinas zur Werkstatt der Welt nur etwa 20 Prozent der bisherigen Deindustrialisierung in den reichen Ländern erklären.
    Häufig hört man, die verbliebenen rund achtzig Prozent rührten weitgehend daher, dass mit wachsendem Wohlstand die Nachfrage nach Industriegütern relativ betrachtet sinke. Bei näherem Hinsehen erkennt man jedoch, dass dieser Nachfrageeffekt in Wahrheit sehr klein ist. Offenbar geben wir einen größeren Anteil unseres Einkommens für Dienstleistungen aus, nicht weil wir absolut betrachtet mehr Dienstleistungen in Anspruch nehmen, sondern weil Dienstleistungen relativ betrachtet immer teurer werden.
    Mit dem (inflationsbereinigten) Betrag, den man vor zehn Jahren für einen PC ausgab, kann man heute möglicherweise drei, wenn nicht sogar vier Computer kaufen, die von ihrer Leistung her gleichwertig oder sogar besser sind und mit Sicherheit kleiner. Folglich besitzen wir wahrscheinlich zwei Computer statt nur einen. Doch auch bei zwei Computern ist der Anteil unseres Einkommens, den wir dafür ausgegeben haben, beträchtlich gesunken (der Einfachheit halber nehme ich einmal an, dass sich das Einkommen der Inflation angepasst und somit gleich geblieben ist). Dagegen gehen wir vermutlich genauso oft zum Friseur wie vor zehn Jahren, wenn nicht der Haarausfall dazwischengekommen ist. Der Preis für einen Haarschnitt ist wahrscheinlich gestiegen, sodass der Einkommensanteil, den wir für den Friseur ausgeben, höher ist als vor zehn Jahren. Folglich sieht es so aus, als gäben wir einen größeren Anteil unseres Einkommens für den Friseur aus und einen kleineren für Computer. In Wahrheit aber konsumieren wir mehr Computer als früher, während der Konsum beim Haarschnitt gleich geblieben ist.
    Wenn man die relativen Preisveränderungen berichtigt – oder, um den Fachausdruck zu verwenden, »konstante Preise« anlegt -, war der Niedergang der industriellen Fertigung in den reichen Ländern bei Weitem nicht so steil, wie es scheint. Im Fall Großbritanniens beispielsweise ist der Anteil der Fertigung am Gesamtoutput ohne Berücksichtigung der relativen Preiseffekte – der

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