23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
dem Wohlstand auch die Nachfrage nach Dienstleistungen gestiegen ist und hoch produktive wissensbasierte Dienstleistungen wie im Bankgewerbe und der Managementberatung zugenommen haben, ist die verarbeitende Industrie in den reichen Ländern im Niedergang begriffen. Diese Länder befinden sich nun im »postindustriellen« Zeitalter: Die meisten Menschen sind im Dienstleistungssektor beschäftigt, und auch der Output besteht überwiegend aus Dienstleistungen. Der Niedergang der Industrie ist nicht nur völlig natürlich und unbedenklich, sondern wir sollten sogar froh darüber sein. Mit dem Anstieg wissensbasierter Dienstleistungen können einige Entwicklungsländer die ohnehin dem Untergang geweihte Produktion von Industriegütern überspringen und sich kopfüber ins postindustrielle Dienstleistungszeitalter stürzen.
Was sie uns verschweigen
Wenn damit gemeint ist, dass die meisten von uns in Geschäften und Büros arbeiten statt in Fabriken, leben wir wohl in einer postindustriellen Gesellschaft. Doch wir sind nicht in eine postindustrielle Entwicklungsphase eingetreten, in der die Industrie unwichtig geworden wäre. Der sinkende Anteil der verarbeitenden Industrie am Gesamtoutput liegt nicht daran, dass die Menge der produzierter Güter gesunken wäre, sondern überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, an deren Preisverfall im Vergleich zum Preis für Dienstleistungen. Das wiederum ist dadurch zu erklären, dass ihre Produktivität schneller wächst. Obwohl die Deindustrialisierung überwiegend auf dieses unterschiedliche Produktivitätswachstum der Sektoren zurückzuführen und somit für sich nichts Negatives ist, hat sie unübersehbar negative Folgen auf das Produktivitätswachstum der Wirtschaft insgesamt und auf die Zahlungsbilanz. Was die Vorstellung angeht, dass Entwicklungsländer die Industrialisierung weitgehend überspringen und direkt in die postindustrielle Phase eintreten könnten, so ist das ein Hirngespinst. Dienstleistungen haben nur einen geringen Spielraum für Produktivitätswachstum und sind daher ein schlechter Wachstumsmotor. Weil sich Dienstleistungen nur schwer exportieren lassen, hat eine dienstleistungsorientierte Wirtschaft ein geringeres Exportpotenzial. Bei geringen Exporteinnahmen ist es aber auch schwieriger, fortschrittliche Technik aus dem Ausland einzukaufen, was wiederum ein langsameres Wachstum nach sich zieht.
Gibt es noch etwas, das nicht »Made in China« ist?
Eines Tages fragte mich mein neunjähriger Sohn Jin-Gyu: »Papa, gibt es eigentlich etwas, das nicht ›Made in China‹ ist?« Ich erklärte ihm, dass es zwar vielleicht nicht auf den ersten Blick erkennbar sei, aber dass andere Länder durchaus auch noch Sachen herstellen. Dann suchte ich verzweifelt nach einem Beispiel. Ich wollte gerade seine »japanische« Spielkonsole Nintendo DSi anführen, als mir einfiel, dass auch die »Made in China« ist. Ich konnte ihm noch erklären, dass manche Handys und Flachbildfernseher in Korea hergestellt werden, aber viel mehr fiel mir nicht ein, was ein Neunjähriger kennt – mit einem BMW hätte er noch nicht viel anfangen können. Kein Wunder, dass China heute als »Werkstatt der Welt« bezeichnet wird.
Man mag es kaum glauben, aber dieser Ausdruck »Werkstatt der Welt« wurde einst für Großbritannien geprägt, das heute, wenn man dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy glauben will, »keine Industrie« mehr hat. Nachdem Großbritannien vor anderen Ländern die industrielle Revolution auf den Weg gebracht hatte, stieg es zur vorherrschenden Industriemacht auf und war Mitte des 19. Jahrhunderts zuversichtlich genug, den Handel vollständig zu liberalisieren (siehe Nr. 7). Im Jahr 1860 wurden 20 Prozent der Weltproduktion in Großbritannien gefertigt, 1870 hatte das Land einen Anteil von 46 Prozent am weltweiten Handel mit Industriegütern. Wenn man bedenkt, dass der derzeitige Anteil Chinas am Weltexport 2007 nur bei etwa 17 Prozent lag und trotzdem »alles« aus China zu kommen scheint, kann man sich vorstellen, wie beherrschend die Briten einst waren.
Doch die Führungsrolle Großbritanniens war nur von kurzer Dauer. Nach der vollständigen Handelsliberalisierung um 1860 verlor es ab etwa 1880 seine Vormachtstellung, da Länder wie die USA und Deutschland rasch aufholten. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte Großbritannien seine Führungsrolle in der industriellen Hierarchie der Welt eingebüßt. Die Vorherrschaft der verarbeitenden Industrie innerhalb der
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