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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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Prozent des Bruttoinlandsprodukts und kann damit auch nicht annähernd das Außenhandelsdefizit im industriellen Bereich ausgleichen, das 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt. 4 So ein großes Außenhandelsdefizit konnten die USA nur verkraften, indem sie in großem Umfang Kredite aufnahmen – was in den nächsten Jahren angesichts der weltwirtschaftlichen Veränderungen schwieriger werden wird -, und nicht etwa, weil der Dienstleistungssektor wie im Fall Großbritanniens die Lücke füllte. Darüber hinaus ist es fraglich, ob die USA und Großbritannien ihre Stärken in den wissensbasierten Dienstleistungen langfristig halten können. In Dienstleistungsbereichen wie dem Ingenieurwesen und dem Design, die auf Erkenntnisse aus dem Produktionsprozess angewiesen sind, wird der Rückgang der industriellen Basis eine Qualitätsminderung der (Dienstleistungs-)Produkte und damit weitere Verluste im Export nach sich ziehen.
    Wenn nicht einmal Großbritannien und die USA – die beiden im Bereich der wissensbasierten Dienstleistungen fortschrittlichsten Staaten – das Zahlungsbilanzdefizit langfristig durch Exporte in diesem Bereich decken können, so ist es höchst unwahrscheinlich, dass es anderen Ländern gelingen wird.

Postindustrielle Phantasien

    Nach Argumentation derer, die die Deindustrialisierung als Konsequenz aus der Verlagerung des Wachstums von der verarbeitenden Industrie hin zu den Dienstleistungen verstehen, können die Entwicklungsländer die Industrialisierung weitgehend überspringen und direkt in eine Dienstleistungswirtschaft eintreten. Mit der zunehmenden Auslagerung von Dienstleistungen ins Ausland verbreitete sich diese Haltung vor allem unter Beobachtern in Indien. Vergessen wir die Industrie mit ihrer ganzen Umweltverschmutzung, sagen sie. Lasst uns von der Landwirtschaft direkt zur Dienstleistung übergehen. Wenn China die Werkstatt der Welt ist, sollte Indien versuchen, »das Büro der Welt« zu werden.
    Wer glaubt, dass sich ein armes Land überwiegend auf der Basis des Dienstleistungssektors entwickeln kann, folgt jedoch einem Hirngespinst. Wie bereits dargelegt, weist der Industriesektor per se ein schnelleres Produktivitätswachstum auf als der Dienstleistungssektor. Natürlich gibt es Dienstleistungsbranchen, die ein rasches Wachstumspotenzial haben, insbesondere die wissensbasierten Dienstleistungen, von denen ich schon sprach. Doch diese Bereiche arbeiten überwiegend Industriebetrieben zu. Daher kann man sie nur entwickeln, wenn man bereits eine starke industrielle Basis hat. Dort, wo sich die Entwicklung schon früh überwiegend auf Dienstleistungen stützt, wächst die Produktivität langfristig erheblich langsamer als dort, wo die Industrie als Fundament vorhanden ist.
    Wie bereits dargestellt, haben die Länder, die sich auf Dienstleistungen spezialisieren, aufgrund deren mangelnder Marktfähigkeit erheblich stärker mit der Zahlungsbilanz zu kämpfen als Länder, die sich auf die Industrie konzentrierten. Das ist für ein entwickeltes Land schon schwierig genug, weil dadurch der Lebensstandard langfristig sinkt. Doch für ein Entwicklungsland ist es noch problematischer. Für seine Entwicklung muss so ein Land neueste Technik aus dem Ausland importieren, sei es in Form von Maschinen oder in Form von Patenten. Wenn das Land in Zahlungsbilanzschwierigkeiten gerät, kann es seine Wirtschaft nicht weiter durch Importe modernisieren und weiterentwickeln.
    Meine Einlassungen zu dienstleistungsgestützten Entwicklungsstrategien für die Wirtschaft provozieren bei manch einem vielleicht den Widerspruch: Was ist dann mit Ländern wie der Schweiz und Singapur? Haben sie sich etwa nicht auf dem Fundament von Dienstleistungen entwickelt?
    Nein, denn diese beiden Volkswirtschaften entsprechen durchaus nicht dem gern kolportierten Bild. In Wahrheit sind sie Erfolgsgeschichten der verarbeitenden Industrie. Oft hört man, die Schweiz lebe wahlweise von dem Geld, das Dritte-Welt-Diktatoren gestohlen und auf Schweizer Konten gehortet hätten, oder vom Verkauf von Kuhglocken und Kuckucksuhren an japanische und amerikanische Touristen. In Wahrheit ist die Schweiz eine der am stärksten industrialisierten Volkswirtschaften der Welt. Uns stechen die Schweizer Produkte nicht ins Auge, denn das Land ist mit etwa sieben Millionen Einwohnern klein, sodass auch die Zahl Schweizer Industriegüter relativ gering ausfällt. Zudem werden nicht etwa Verbrauchsgüter hergestellt, die man täglich sieht,

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