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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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Fachausdruck lautet hier »gegenwärtige Preise« – zwischen 1955 und 1990 um 40 Prozent gesunken, nämlich von 37 auf 21 Prozent.
    Wenn wir aber die relativen Preiseffekte berücksichtigen, lag der Rückgang bei nur knapp über 10 Prozent (von 27 auf 24 Prozent). 3 Anders ausgedrückt: Die reale Nachfragewirkung ist unter Berücksichtigung der relativen Preisveränderungen nur gering.
    Warum aber fallen dann die relativen Preise für Industriegüter? Das liegt daran, dass die verarbeitende Industrie tendenziell ein schnelleres Produktivitätswachstum aufweist als die Dienstleistungsbranchen. Da der Output der verarbeitenden Industrie schneller wächst als der des Dienstleistungssektors, fallen die Preise für industrielle Erzeugnisse im Vergleich zu denen für Dienstleistungen. Die Industrie, in der die Mechanisierung und der Einsatz chemischer Prozesse erheblich einfacher ist, erreicht auch leichter eine Produktivitätssteigerung als der Dienstleistungssektor. Umgekehrt können viele Dienstleistungen von ihrer Beschaffenheit her gar keine Produktivitätssteigerung erreichen, ohne die Qualität des Produkts negativ zu beeinflussen.
    In manchen Fällen zerstört die gesteigerte Produktivität sogar das Produkt. Wenn ein Ensemble ein Streichquartett in neun Minuten durch ein 27-Minuten-Stück hetzt, würde wohl niemand behaupten, dass sich die Produktivität verdreifacht hat.
    Bei anderen Dienstleistungen liegt die scheinbar höhere Produktivität an der Verschlechterung des Produkts. Eine Lehrerin kann ihre Produktivität scheinbar erhöhen, indem sie in einer Stunde vier Mal so viele Schüler unterrichtet, doch die Qualität ihres »Produkts« wird dadurch schlechter, denn sie kann dem einzelnen Kind nicht mehr so viel Aufmerksamkeit schenken wie zuvor. Ein großer Teil der Produktivitätssteigerungen im Einzelhandel wurde etwa in den USA und Großbritannien dadurch erkauft, dass man die Servicequalität senkte und in der Folge Schuhe, Sofas und Äpfel angeblich günstiger anbot: Im Schuhladen gibt es weniger Verkäuferinnen, sodass man nun statt fünf Minuten zwanzig wartet. Die Lieferung des neuen Sofas dauert vier Wochen statt zwei, und man muss sich einen Tag freinehmen, weil es irgendwann »zwischen 8 und 18 Uhr« geliefert wird. Auch für die Fahrt zum neuen Supermarkt und den Gang durch die nunmehr längeren Regalreihen braucht man länger, denn die Äpfel sind dort nur billiger als im alten Laden, weil der neue Supermarkt weit abgelegen auf der grünen Wiese liegt und eine größere Fläche hat.
    Manche Dienstleistungen wie etwa Bankgeschäfte haben mehr Raum für Produktivitätssteigerungen als andere. Doch wie die Finanzkrise 2008 bewiesen hat, war der Zugewinn nicht so sehr einer echten Produktivitätssteigerung zu verdanken (etwa einer Senkung der Handelskosten dank besserer Computerprogramme), sondern innovativen Finanzprodukten, die das Risiko der Anlagen verschleierten, statt sie wirklich zu senken, sodass der Finanzsektor in einem nicht aufrechtzuerhaltenden Tempo wuchs (siehe Nr. 22).
    Dass der Anteil der verarbeitenden Industrie am Gesamtoutput in den reichen Ländern gesunken ist, liegt demnach nicht überwiegend daran, dass die Nachfrage nach Industriegütern relativ betrachtet gefallen wäre, wie viele meinen. Ebenso wenig lässt sich diese Entwicklung auf den Anstieg der Exporte aus China und anderen Entwicklungsländern zurückführen, obwohl das in einigen Bereichen durchaus große Auswirkungen hatte. Vielmehr sind die infolge eines schnelleren Produktivitätswachstums in der verarbeitenden Industrie fallenden relativen Preise der hergestellten Waren hauptverantwortlich für die Deindustrialisierung. Die Bürgerinnen und Bürger in den reichen Ländern leben demnach wirklich in einer postindustriellen Gesellschaft, wenn man die Art der Beschäftigung betrachtet, doch die Bedeutung der Industrie hat bezüglich der Produktion in diesen Volkswirtschaften nicht so weit verloren, dass wir von einem postindustriellen Zeitalter reden könnten.

Ist die Deindustrialisierung bedenklich?

    Aber wenn die Deindustrialisierung aus der Dynamik im industriellen Sektor eines Landes folgt, ist sie dann nicht etwas Gutes?
    Nicht unbedingt. Wenn sich die Deindustrialisierung überwiegend aus der Dynamik der Industrie im Vergleich mit dem Dienstleistungssektor ergibt, so sagt das noch nichts darüber aus, wie sie sich im Vergleich zu anderen Ländern entwickelt. Weist der industrielle Sektor eines Landes ein

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