23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
britischen Wirtschaft blieb allerdings noch eine ganze Weile erhalten. Bis Anfang der Siebzigerjahre hatte Großbritannien gemeinsam mit Deutschland den höchsten Anteil der Industriebeschäftigten auf dem Arbeitsmarkt, nämlich rund 35 Prozent. Großbritannien, das damals Industriegüter exportierte und Lebensmittel, Brennstoffe und Rohstoffe importierte, war somit das Paradebeispiel für eine industrielle Volkswirtschaft. Der Außenhandelsüberschuss aus der Industrie (Ausfuhr minus Einfuhr von Industrieerzeugnissen) betrug in den Sechziger- und Siebzigerjahren konstant 4 bis 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Seit den Siebzigerjahren jedoch hat der Industriesektor in Großbritannien rapide an Bedeutung verloren. Der Anteil der Industrieproduktion am britischen Bruttoinlandsprodukt lag 1950 bei 37 Prozent, heute beträgt er nur noch 13 Prozent. Der Anteil der Industrie am Arbeitsmarkt fiel von 35 Prozent Anfang der Siebzigerjahre auf knapp über 10 Prozent. 1 Auch die britische Position im internationalen Handel hat sich radikal verändert. Heute hat Großbritannien ein Handelsbilanzdefizit von etwa 2 bis 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr. Was ist geschehen? Müssen sich die Briten Sorgen machen?
Die vorherrschende Meinung lautet, dass keinerlei Veranlassung besteht, sich Sorgen zu machen. Erstens ist Großbritannien durchaus nicht das einzige Land, dem es so ergangen ist. Der sinkende Anteil der Industrieproduktion am Gesamtoutput und am Arbeitsmarkt – auch als Deindustrialisierung bekannt – sei ein, so hört man häufig, völlig natürliches Phänomen, das allen reichen Ländern gemein ist und im Fall Großbritanniens durch die Ölfunde in der Nordsee noch beschleunigt wurde. Nach verbreiteter Meinung liegt das daran, dass die Menschen mit wachsendem Wohlstand mehr Dienstleistungen als Industriegüter nachfragen. Bei der sinkenden Nachfrage ist es nur natürlich, dass der Fertigungssektor schrumpft und das Land in ein postindustrielles Zeitalter eintritt. Der Aufstieg der Dienstleistungen wird oft gepriesen. Durch die Zunahme wissensbasierter Dienstleistungen in jüngster Zeit und ihr rapides Produktivitätswachstum, etwa in den Bereichen Finanzen, Beratung, Design, IT, Kommunikation, Forschung und Entwicklung, so heißt es, hätten die Dienstleistungen die Industrie als Wachstumsmotor abgelöst, zumindest in den reichen Ländern. Die industrielle Fertigung gilt heute als minderwertige Tätigkeit, die in Entwicklungsländern wie China geleistet wird.
Computer und Haarschnitt: Wie es zur Deindustrialisierung kommt
Befinden wir uns wirklich schon im postindustriellen Zeitalter? Ist die verarbeitende Industrie heute irrelevant? Die Antwort lautet: »Nur in gewisser Hinsicht« und: »Nein.«
Unbestreitbar arbeiten heute in den reichen Ländern viel weniger Menschen in Fabriken als früher. Es gab eine Zeit, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als in manchen Ländern, insbesondere Großbritannien und Belgien, etwa 40 Prozent der Beschäftigten in der Industrie arbeiteten. Heute liegt der Anteil bei höchstens 25 Prozent, in manchen Staaten, vor allem in den USA, Kanada und Großbritannien, bei nicht einmal 15 Prozent.
Da proportional betrachtet deutlich weniger Menschen in den Fabriken arbeiten, hat sich die Gesellschaft verändert. Ökonomen entgeht das zwar gern, aber wir werden auch von unserer Arbeit geprägt, sodass es durchaus Einfluss auf uns hat, wo und wie wir arbeiten. Verglichen mit Fabrikarbeitern verrichten Büroangestellte und Verkäufer erheblich weniger körperliche Arbeiten und haben, da sie nicht an Fertigungsstraßen und anderen Maschinen gebunden sind, mehr Einfluss auf den Arbeitsprozess. Fabrikarbeiter kooperieren am Arbeitsplatz und außerhalb stärker mit ihren Kollegen, in erster Linie durch gewerkschaftliche Aktivitäten. Im Laden und im Büro arbeiten die Menschen dagegen individueller und sind auch nicht so stark in Gewerkschaften organisiert. Verkäuferinnen und einige Büroangestellte haben dafür direkten Kundenkontakt, wohingegen Fabrikarbeiter ihre Kunden nie zu Gesicht bekommen. Ich kenne mich in der Soziologie und Psychologie nicht genügend aus, um dazu etwas Tiefschürfendes beizutragen, aber das bedeutet doch, dass die Menschen in den reichen Ländern heute nicht nur anders arbeiten, sondern auch anders sind als ihre Eltern und Großeltern. Die reichen Länder von heute haben daher, soziologisch betrachtet, mittlerweile eine postindustrielle
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