23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
langsameres Produktivitätswachstum auf als in anderen Ländern, so büßt er seine internationale Wettbewerbsfähigkeit ein. Das zieht kurzfristig Zahlungsbilanzschwierigkeiten nach sich und langfristig einen sinkenden Lebensstandard. Deindustrialisierung kann demnach mit wirtschaftlichem Erfolg oder auch Misserfolg einhergehen. Kein Land sollte sich in Sicherheit wiegen, wenn die Deindustrialisierung aus einer vergleichsweise großen Dynamik der Industrie im Vergleich zum Dienstleistungssektor erwächst, weil auch ein nach internationalem Standard sehr undynamischer Industriesektor dynamischer sein kann (und es meist auch ist) als der Dienstleistungssektor im eigenen Land.
Unabhängig davon, ob die Industrie eines Landes im internationalen Vergleich dynamisch ist oder nicht, wirkt sich eine relativ an Bedeutung verlierende Industrie negativ auf das Produktivitätswachstum aus. Wird die Wirtschaft vom Dienstleistungssektor beherrscht, in dem das Produktivitätswachstum geringer ausfällt, so verlangsamt sich das Wachstum für die ganze Volkswirtschaft. Wenn wir nicht davon ausgehen (manche tun das), dass die Länder, die gerade eine Deindustrialisierung durchmachen, so reich sind, dass die Produktivität dort nicht mehr wachsen muss, dann sollte man sich über ein verlangsamtes Produktivitätswachstum durchaus Gedanken machen – oder sich eben damit abfinden.
Die Deindustrialisierung wirkt sich auch auf die Zahlungsbilanz eines Staates aus, weil Dienstleistungen per se schwerer zu exportieren sind als Industriegüter. Ein Zahlungsbilanzdefizit bedeutet, dass das betreffende Land seine Verbindlichkeiten in der Welt nicht erfüllen kann. Natürlich kann es das Loch vorübergehend stopfen, indem es Kredite im Ausland aufnimmt, doch am Ende muss es seine Währung entwerten. Damit wird der Import noch schwieriger, und der Lebensstandard sinkt.
Dienstleistungen haben eine schlechte »Marktfähigkeit«. Das liegt vor allem daran, dass die meisten Dienstleistungen anders als Industriegüter, die man überallhin liefern kann, darauf angewiesen sind, dass Dienstleister und Kunde am selben Ort sind. Der Fernhaarschnitt und -hausputz sind noch nicht erfunden. Dieses Problem lässt sich dadurch lösen, dass der Dienstleister (in diesem Fall die Friseurin oder die Reinigungskraft) in das Land des Kunden zieht, doch wäre das überwiegend ein Fall von Einwanderung, die in der Mehrheit der Staaten streng reglementiert ist (siehe Nr. 3). Wenn in der Volkswirtschaft der Anteil der Dienstleistungen steigt, heißt das demnach, dass das Land bei ansonsten unveränderten Umständen niedrigere Exporteinnahmen verzeichnet. Falls der Export von Industriegütern nicht unverhältnismäßig steigt, kann das Land dann nicht mehr für die gleichen Importmengen aufkommen wie zuvor. Ist die Deindustrialisierung negativer Art, geht sie also mit einer Schwächung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit einher, so könnten sich die Zahlungsbilanzschwierigkeiten weiter zuspitzen, da der Industriesektor seine Exporte nicht wird steigern können.
Natürlich gibt es auch marktfähige Dienstleistungen. Die schon erwähnten wissensbasierten Dienstleistungen – Bankgeschäfte, Beratung, Ingenieurleistungen und so weiter – lassen sich international sehr gut handeln. In Großbritannien beispielsweise haben wissensbasierte Services entscheidend dazu beigetragen, die Zahlungsbilanzlücke zu schließen, die sich durch die Deindustrialisierung ergeben hatte (verschärft durch den Exportrückgang beim Nordseeöl, dank dessen das Land in den Achtzigerjahren die negativen Auswirkungen der Deindustrialisierung auf die Zahlungsbilanz gerade so hatte ausgleichen können).
Doch sogar in Großbritannien, das im Export dieser wissensbasierten Dienstleistungen besonders weit entwickelt ist, liegt der Zahlungsbilanzüberschuss infolge dieser Dienstleistungen deutlich unter 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und reicht damit gerade einmal aus, das Handelsdefizit aus der Industrie wettzumachen. Wenn als Konsequenz aus der Weltfinanzkrise des Jahres 2008 das globale Finanzwesen sehr wahrscheinlich stärker reguliert wird, wird Großbritannien die Handelsbilanz im Finanzbereich und anderen wissensbasierten Dienstleistungen künftig wohl nicht weiter auf diesem Niveau halten können. Im Fall der USA, angeblich ebenfalls modellhaft für eine postindustrielle Volkswirtschaft, liegt der Außenhandelsüberschuss in den wissensbasierten Dienstleistungen gar unter 1
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