23 Uhr, York Avenue
von Sewickley in Pennsylvania. Seine Frau war ein richtiges Ungeheuer. Ich kann mich verschwommen an sie erinnern. Ich hab' meine Größe von ihr, glaub' ich. Sie war riesengroß - und häßlich. Meine Mutter war ein Einzelkind. Hier hast du meine Mutter bei der Abschlußfeier ihrer Klasse. Sie war zwei Jahre lang an einer Lehrerbildungsanstalt. Die eine mit dem Kreis rundherum, das ist sie. Dieses Bürschchen hier ist mein Vater mit zehn Jahren. War er nicht drollig? Später ging er dann nach Yale. Sieh dir den Hut an, den er da aufhat! Ist der nicht zum Schreien? Er hat für die Hochschule gerudert. Und er war auch ein großartiger Schwimmer. Hier hast du ihn in Badehosen. Das Bild stammt aus seinem letzten Jahr in Yale.
Anderson: Sieht aus, als hätt' er 'nen Schwengel wie'n Bulle.
Mrs. Everleigh: Schwein. Na, ich kann dir sagen, er war ein ganzer Mann. Groß und muskulös. Er lernte meine Mutter auf einem Semesterkränzchen kennen, und kurz nach seiner Promotion heirateten die beiden. Ungefähr drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg fing er als zweiter Buchhalter in der Wall Street an. Mein Bruder Ernest wurde 1915 geboren, aber als Amerika in den Krieg eintrat, ging Paps zur Armee. 1918 wurde er nach Europa verlegt. Ich glaub' aber nicht, daß er tatsächlich zum Kämpfen gekommen ist. Hier hast du ihn in seiner Uniform.
Anderson: Diese Wickelgamaschen müssen der reinste Mord gewesen sein. Der erste Mann von meiner Mutter war damals bei der Marineinfanterie. Er fiel an der Marne.
Mrs. Everleigh: Das kann aber nicht dein Vater gewesen sein?
Anderson: Nein. Mein Pappi war ihr dritter Mann.
Mrs. Everleigh: Nun, hier siehst du Mama und Paps mit Ernie und Tom - er war der Zweitgeborene. Im Zweiten Weltkrieg mußte er als Soldat nach Frankreich. Im Feld vermißt. Und das ist Mutter, wie sie mich in den Armen hält-das erste Bild, das von mir aufgenommen wurde. War ich nicht süß?
Anderson: Ja.
Mrs. Everleigh: Auf diesen Photos hier siehst du mich langsam aufwachsen. Schlupfhosen. Turntrikot. Badeanzug. Wir fuhren zu einem Blockhaus an einem See oben in Kanada. Da sind alle Kinder vereint - Ernest und Thomas und ich und Robert. Wir alle.
Anderson: Du warst das einzige Mädchen?
Mrs. Everleigh: Ja. Aber ich konnte mit den Jungs Schritt halten, und nach einer Weile schwamm ich schneller als sie alle. Mutter wurde krank und lag viel im Bett, und Paps brauchte seine Zeit für den Beruf. So waren wir vier Kinder viel zusammen. Ernie gab den Ton an, weil er der Älteste war, aber als er dann in Dartmouth zur Schule ging, übernahm ich die erste Geige. Bob und Tom hatten nie die Autorität, die Ernie gehabt hatte.
Anderson: Wie alt warst du auf diesem hier?
Mrs. Everleigh: So um die dreizehn, glaub' ich.
Anderson: 'n beachtliches Paar Lungen hast du da.
Mrs. Everleigh: Ja, ich bin schon sehr früh reif geworden. Die Geschichte meines Lebens. Schon mit elf fing ich unten zu bluten an. Sieh dir die Schultern an, die ich hatte, und diese Schenkel. Ich konnte schneller schwimmen als meine Brüder und alle ihre Freunde. Die Jungs nahmen mir das übel, glaub' ich. Ihnen gefielen zerbrechliche, schwache, weibliche Dinger, und ich hatte diesen großen, starken, muskulösen Körper. Ich dachte, die Jungs würden ein Mädchen mögen, das mit ihnen schwimmen und mit ihnen auf Pferden reiten und raufen konnte und all das… aber als dann die ersten Tanzabende anfingen, da merkte ich, daß es die zerbrechlichen, schwachen, blassen, weiblichen Dinger waren, die eingeladen wurden. Mutter bestand darauf, daß ich Tanzstunden nahm, aber ich brachte es nie sonderlich weit dabei. Ich konnte tauchen und schwimmen, aber auf dem Tanzparkett kam ich mir vor wie ein Blödel.
Anderson: Wer hat deine Kirsche geknackt?
Mrs. Everleigh: Mein Bruder Ernie hat mich entjungfert. Bist du jetzt entsetzt?
Anderson: Wie käm' ich dazu? Ich bin aus Kentucky.
Mrs. Everleigh: Weißt du, es passierte, als er über die Osterferien aus Dartmouth nach Hause kam. Und er war betrunken.
Anderson: Klar.
Mrs. Everleigh: Hier hast du mich bei der Abschlußfeier meiner Oberschule. Bin ich nicht hübsch?
Anderson: Du siehst aus wie'n junges Kalb im Nachthemd.
Mrs. Everleigh: Vermutlich ja… so seh' ich aus, glaub' ich. Oh, mein Gott, dieser Hut. Aber dann, als ich anfing, bei Miß Proud zur Schule zu gehen, wurde ich schlanker. Ein bißchen. Nicht viel, aber ein bißchen wenigstens. Ich war Schwimmerin in der Schulmannschaft, Kapitän des siegreichen
Weitere Kostenlose Bücher