230 - Gilam'esh'gad
folgenschweren Fehler.
Er sagte: »Lass dir ruhig Zeit!«
***
Abendrot spiegelte sich in langen Streifen an der Weite des Nordpazifiks. Wind schäumte die rauschenden Wellen auf und ließ sie donnernd herunterschlagen. Sie waren die einzigen Geräuschquellen weit und breit, der Wind und die Wellen. Kein Meeresvogel zog noch jagend durch die Lüfte, kein glänzender Robbenkopf tauchte aus dem Wasser. Der Tag ging zur Neige.
Unten am Meeresgrund schlug in diesen Minuten ein gekentertes Schiff lautlos auf. Die Baq Wan hatte ihr Grab erreicht, zusammen mit der gepfählten Transportqualle und dem letzten entflohenen Saurier von Gilam’esh’gad. Still und fahl wogte der vorweltliche Gigant in der Strömung. Als die hoch gewirbelten Sedimentwolken rings um das Schiff zu sinken begannen, tauchten erste Fische auf, misstrauisch noch und nervös. Bald aber würden sie ihre Angst verlieren und näher heran kommen. Beute schlagen. Wenn die Nacht begann…
Zur selben Zeit verließ Clarice das Wissenschaftszentrum und machte sich auf den Weg in die Innenstadt, um nachzusehen, ob ihre Gefährten Quart’ol, Aruula und Vogler das Seebeben heil überstanden hatten.
Es war schon Abend. Das Leuchtmikrobenheer am Felsendach über Gilam’esh’gad dimmte seine winzigen Lichter herunter und überließ die versunkene Unterwasserlandschaft den Herrschern der Nacht. Schatten krochen durch die Straßen, gaukelten Dinge vor, die gar nicht da waren. Zwischen dunklen Ruinen blinkten biolumineszente Formen. Hier und da huschte etwas vorbei – selten zu erkennen, immer still. Es war so gespenstisch!
Clarice fror unter ihrem Tauchanzug und ertappte sich dabei, wie sie gelegentlich einen gehetzten Blick über die Schulter warf. Anders als ihr Freund Vogler, der sich im dämmrigen Wasser der Tiefsee erstaunlich gut zurecht fand, hatte die Marsianerin Angst, wenn es Nacht wurde in Gilam’esh’gad. Da waren zu viele unheimliche Wesen unterwegs. Es gab zu viele Stadtviertel, in denen man sich verirren konnte – und entschieden zu viel Wasser überall! Wie sehnte sich Clarice in solchen Augenblicken nach den staubtrockenen Wohngebieten des Mars!
Doch der Rote Planet war noch um eine Unendlichkeit weiter entfernt als die Pazifik-Oberfläche, wo es Luft im Überfluss gab und man endlich richtig atmen konnte. Den Wind auf der Haut spürte. Den Himmel sah…
Die Marsianerin riss sich zusammen. Es hatte keinen Zweck, solchen Gedanken nachzuhängen. Sie musste sich damit abfinden, dass sie eine Weile in Gilam’esh’gad bleiben würde. Irgendwann war die versunkene Hydritenstadt nur noch eine Erinnerung, an die sie dann vielleicht gern zurückdachte. Aber jetzt war nicht die Zeit zum Träumen!
Eilig schwamm Clarice durch die stillen Straßen. Vorbei an uralten, verkommenen Gebäuden, die seit Jahrtausenden im Dunkel verharrten, abgeschnitten von der Restwelt und von der Energiequelle, die Gilam’esh’gad einst leuchten ließ wie ein strahlendes Juwel.
Erinnerte sich noch jemand an diese Zeit? Dachte überhaupt noch jemand an die versunkene Stadt? Clarice konnte es sich nicht vorstellen.
Doch sie irrte sich. Ein paar tausend Meter über ihr und endlose Meilen weiter südöstlich sagte jemand genau in diesem Moment: »Ich frage mich, ob das Beben auch Gilam’esh’gad erreicht hat!«
***
Kalan Nauri, ein versunkenes Atoll im Südpazifik
Der Name bedeutete Phantom in der Tiefe, und so benahm es sich auch: Mal sah man es, dann wieder nicht. Die NASA hatte es Ende 2011 eher zufällig bei der Auswertung eines ihrer Satellitenfotos entdeckt, aber keine Gelegenheit mehr gehabt, die rätselhafte Erscheinung zu erforschen. Mit dem Einschlag des Wandlers wurde die Menschheit in die Steinzeit zurückkatapultiert, und das Tarnkappenspiel von Kalan Nauri blieb für immer ein Geheimnis.
Die Hydriten jedoch wussten, was den Phantom-Effekt des Atolls hervorrief. Es war sein Bewuchs! Seltene Weichkorallen, so genannte Wiitlings, die sich in der Strömung bewegten. Je nach Ausrichtung reflektierten sie durch ihre besondere Oberflächenzellstruktur das Sonnenlicht in einer Stärke, die den Schatten des Atolls überstrahlte. Man konnte es dann höchstens noch per Ultraschall aufspüren.
Kalan Nauri war uralt. Irgendwann hatte eine Seiteneruption des längst erloschenen Vulkans ein Unterwasserlabyrinth erschaffen – und dort, in der Heiligen Grotte der Geistwanderer, lag die geheime Versammlungsstätte des Gilam’esh-Bundes.
Heute waren seine zwölf
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