2309 - Die Augen von Charon
bevor sie in Kontakt mit dem „Schneesturm" kam, und braphte ihre Aufzeichnungen zurück zur VERACRUZ.
Marya Delazar wertete die Ortungsergebnisse persönlich aus.
Obwohl die Bordpositronik die gesamte Aufzeichnung gespeichert und bereits analysiert hatte, berief Marya sich auf den „Faktor Mensch" und ging mit einer gründlichen, bedächtigen Sorgfalt vor, die mich schier in den Wahnsinn trieb.
Schließlich rief sie Holos auf, die den Flug der Sonden in extremer Verlangsamung zeigten.
Die dreidimensionalen Bilder waren verschwommen, als hätte die Charon-Wolke absichtlich versucht, unsere Forschungen zu hintertreiben. Nur ansatzweise erkannte ich, dass die Sonde nicht hinter einem Ereignishorizont oder einem ähnlichen astrophysikalischen Phänomen verschwand, sondern tatsächlich zerstört, auseinander gerissen wurde. Ihre Bestandteile zerstreuten sich einfach in unterschiedliche Richtungen.
Mein fotografisches Gedächtnis erfasste die Aufzeichnung in ihrer gesamten Unerklärlichkeit. Die erste Sonde wurde nicht wie von einer Explosion vernichtet, bei der die Teile in alle Richtungen flogen. Sie schien sich einfach aufzulösen, und zwar völlig willkürlich.
Von einem Augenblick zum anderen schien sie sich in sich selbst zu verdrehen, zu verzerren, zu zerreißen, ja von allen Seiten gleichzeitig zerfetzt zu werden. Ich dachte unwillkürlich an ein Ereignis aus meiner Vergangenheit auf der Erde, als ich im zweiten Jahrtausend nach Christi Geburt in Südamerika Zeuge gewesen war, wie ein Anhänger von „El Sendador" in einen See gestürzt war, in dem es von Piranhas nur so wimmelte. Er hatte aus mehreren Wunden geblutet, die ich ihm kurz zuvor zugefügt hatte, und nur wenige Sekunden überlebt.
Je länger ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir dieses Bild: Ja, es war, als lauerte hinter der Charon-Schranke ein unsichtbarer Piranha-Schwarm. Ein uns unbekannter Einfluss zerriss buchstäblich jegliche eindringende Materie oder Strahlung nach kurzer Zeit und ließ die Einzelteile spurlos verschwinden.
Doch der Vorgang war nicht gerade scharf aufgezeichnet und wissenschaftlich kaum verwertbar.
Wir waren genauso schlau wie zuvor. Vielleicht würde unsere Chefwissenschaf tierin Dalak Keloon die Ortungsbilder zeigen, und sie würden gemeinsam herausfinden, was genau dort geschehen war.
Doch ich bezweifelte es. „Die Charonii lassen sich nicht in die Karten sehen", sagte ich. „Die legendären Bewohner der Charon-Wolke, von denen keiner weiß, ob es sie überhaupt noch gibt?" Die Kommandantin lachte leise auf. „Und von denen du dir Wunder versprichst?"
Ich schüttelte nachsichtig den Kopf. „Nicht von ihnen, Alysha. Nicht einmal von dem geheimnisvollen Salkrit, das Gon-Orbhon erwähnt hat. Keine Wunder."
„Aber deshalb sind wir doch hier, oder?"
„Nehmt weitere Ortungen vor!", ordnete ich an. „Alysha, trinkst du einen Kaffee mit mir?"
Die Kommandantin betrachtete mich verwundert und nickte dann.
Ich sah mich in dem Konferenzraum um, in dem ich gestern mit der kleinen arkonidischen Delegation gesessen hatte. Selbstverständlich war die Kabine nach unerwünschten „Hinterlassenschaften" wie Abhörgeräten durchsucht worden. Auch wenn der informelle Datenaustausch mit den Arkoniden reibungslos funktionierte, musste man ja keine Gelegenheit schaffen, die Diebe mathte.
Mein Verhältnis zu Alysha Saronn war in den Wochen, die ich mich schon an Bord der VERACRUZ befand, nüchtern und distanziert geblieben. Ich schätzte die sechzigjährige Venusgeborene als fähige Schiffsführerin, doch sie wahrte eine gewisse Distanz zu mir. Das musste nicht unbedingt ein Nachteil sein; Verbrüderungen auf Führungsebene waren nicht angesagt. Doch es war vielleicht angeraten, das Eis ein wenig zu brechen, für etwas mehr Vertrautheit zu sorgen.
Denn bei mir spielte noch ein anderer Faktor hinein.
Ich war ein Unsterblicher, mehr noch, der älteste der bekannteih Unsterblichen der Milchstraße. Was für sie längst vergangene Geschichte war, hatte ich miterlebt, vielleicht sogar gestaltend geprägt. Ob es der Feldzug nach Andromeda war oder der Bau der Pyramiden, ich war derjenige, über den die Geschichtsbücher berichteten, die Alysha Saronns Weltbild und Verständnis geprägt hatten.
Ich ließ uns erneut K'amana bringen. „Alysha", eröffnete ich das Gespräch, nachdem wir jeder ein paar Schlucke genommen hatten, „auch wenn wir von den Schutzherren keinen Hinweis auf die Charon-Wolke bekommen hätten,
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