2311 - Die Explosive Kraft
sich doch verzehnfachen, ach, verhundertfachen können!
Sheerdurn fühlte sich wie in Watte gehüllt, als träume er mit offenen Augen. Er hatte Angst, irgendwann aufzuwachen und aus allen Wolken zu fallen; bestürzt festzustellen, dass diese Sache mehr als eine Nummer zu groß für sie und ihnen furchtbar über den Kopf gewachsen war. Den meisten Crewmitgliedern schien es ähnlich zu ergehen. Sie agierten schlafwandlerisch, wie ferngesteuert. Kempo und Auhara hingegen liefen zur Höchstform auf, und auch Zbirk wuchs über sich hinaus.
Nun flogen sie doch den Planeten Erenesa an. Landeten auf dem Hafen der Hauptstadt Weslon. Behaupteten frech, im Auftrag des Ratsvorsitzenden Khal Pif’Deran unterwegs zu sein (was mangels Funkverbindung nach Ijordan nicht so schnell falsifiziert werden konnte). Verschafften sich Zugang zu Gerichtsprotokollen und Meldeverzeichnissen ... Und spürten, ganz wie Kempo gemutmaßt hatte, eine Reihe von Strukturfliegern auf, die in den letzten Jahren wegen diverser Verfehlungen gegen den ungemein strengen erenesischen Sittenkodex der Pilotenstädte verwiesen worden waren.
Mehrere Dutzend dieser Geächteten machten die Doryner binnen weniger Tage ausfindig; klärten sie auf; warben sie an – und nahmen sie mit.
Das ging erstaunlich glatt, zügig und problemlos vor sich. Ironischerweise wirkten sich dabei sowohl der allgemein charonische Fatalismus als auch die spezielle Verschrobenheit dieser Nation sehr positiv aus. Zugleich mit der Verbannung hatte man den Straffälligen ihre Namen aberkannt, was für einen Erenesaj gleichbedeutend mit der Löschung seiner Persönlichkeit war. Die meisten Zwangsemigrierten machten deshalb einen lethargischen, ja verlotterten Eindruck.
Doch indem Kempo sie für sein Vorhaben rekrutierte, gab er ihnen einen neuen Lebensinhalt; und mit den Namen ehemaliger Mitglieder des Charon-Korps, die im Info-Foyer aufgeschienen waren, auch neue Identitäten. Sie blühten regelrecht auf, warfen ihre Mutlosigkeit zusammen mit den alten Lumpen in den Müllkonverter und fügten sich begeistert in die Gemeinschaft der Doryner ein.
Die hiesigen Autoritäten schöpften keinen Verdacht. Und wenn, verdrängten sie ihn sofort wieder. Schließlich konnte das Verschwinden von „Nicht-Existenzen" gar nicht bemerkt werden ...
Für Sheerdurn vergingen diese Tage wie im Rausch. Gemeinsam mit Zbirk erwarb er in Weslon – auf Rechnung von Auharas Vater – eine stattliche Anzahl von Maschinen, die ihnen die weitere Erschließung der Turmburg von Stolp erleichtern sollten.
Ihm und dem Logistiker fiel, so hatten sie es besprochen, die Leitung dieses Projekts zu.
An ihrer Stelle brachen zwei erenesische Strukturpiloten mit Kempo, Auhara und der DORYNA zur Charon-Schranke auf.
*
Der erste Versuch endete enttäuschend.
Nach mehreren Linearetappen tauchte die Strukturdolbe in den Grenzbereich zwischen Gestöber und freiem Weltraum, so weit nach vorn wie möglich, ohne sich selbst einer eventuellen Entdeckung durch technisch überlegene Einheiten preiszugeben. Sie ließen höchste Vorsicht walten, waren jederzeit darauf gefasst, abermals kelchförmige Riesenraumschiffe zu orten.
Nichts dergleichen geschah. „Die Oberfläche einer Kugel von vierundzwanzig Lichtjahren Durchmesser ist gewaltig", tröstete Kempo sich und die Mannschaft. „Schon unsere erste Sichtung war ein riesengroßer Zufall, nicht mehr."
Ohnehin galt ihre Neugier vordringlich den Sonden. Kempo ließ einen der Standorte, die man den Daten des Charon-Korps entnommen hatte, anfliegen und den Richtfunkimpuls ausstrahlen. Einmal. Zweimal. Fünfmal.
Nichts kam zurück. Der Funkraum blieb tot. „Kein Grund, die Hoffnung aufzugeben", sagte Auhara. „Vierfache Redundanz, erinnert ihr euch?"
Sie flogen die nächste Position an, dann eine dritte.
Und dieses Mal traf umgehend Antwort ein! Der mindestens zwölftausend Jahre alte Satellit deklarierte sich als funktionsfähig und überspielte sein Datenmaterial. „Ich wusste es!", rief Kempo. Triumphierend reckte er die Faust in die Höhe. „Das Netz existiert noch – und das Charon-Korps lebt!"
*
Am Ende des Tages hatten die Strukturpiloten der DORYNA mehr als dreißig Standorte abgesucht – und an siebzehn Punkten eine Rückmeldung erhalten. Alle Sonden, die Antwort gaben, befanden sich exakt an den vorher berechneten Positionen. Ungefähr jeder zweite Satellit war demnach intakt. Es schien also der volle Orterbereich abgedeckt zu werden – und
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