2319 - Die Siedler von Vulgata
farbenstarken Wunderwerke. Hatten die Terraner jene Bilder von ihrer Reise durch das All mitgebracht? War der Ratssaal früher bedeutender gewesen? „Ihr Weisen", hörte er den Patriarchen sagen, „da seht ihr ihn vor euch. Heute Nacht hat er einen Mann umbringen lassen und Vulgata seiner kostbarsten Güter beraubt. Er führt eine Rotte von Aufrührern an, die sich erdreisten, unsere Lebensweise durch den Schmutz zu ziehen. Befragt ihn. Dann sprecht euer Urteil über diesen undankbarsten der Söhne Vulgatas."
Fünfundsechzig Augenpaare begutachteten ihn. Arrick sah in zerknitterte Gesichter mit weit ausladenden Augenbrauen. Das Antlitz des Alters, wohin er auch schaute.
Die Familienoberhäupter saßen in drei Reihen rings um ihn herum im Saal, so dass er sich drehen musste, um sie alle zu sehen. „Da ich der Älteste bin", begann ein gekrümmter Greis, der vor Arrick in der ersten Reihe saß, „steht es mir zu, den Anfang zu machen. Also, Junge, ich frage dich: Sind dir die 520 Gebote Vulgatas bekannt?"
Arrick bejahte. „Also hast du ihnen bewusst zuwidergehandelt?"
Nach kurzem Zögern musste er wieder bejahen.
Der Greis sagte: „Wir sind Entronnene, eine Kolonie von Flüchtlingen, die sich glücklich schätzen können, einen Ort des Friedens gefunden zu haben. Was du getan hast, war undankbar. Du hast unser Erbe mit Füßen getreten. Und du machst nicht den Eindruck, deine Taten zu bereuen.
Oder täusche ich mich da?"
Wut stieg auf in Arrick. Diese liebenswürdigen alten Männer - selbst sie waren blind! Der Patriarch hielt sie in Unwissenheit. Es war eine Unverschämtheit, diese Greise zu betrügen. „Wie heißt du?", fragte er den Alten.
Der stutzte. „Welche Rolle spielt das? Ich bin Raschuko, Familienoberhaupt des Hauses Johannes."
„Raschuko, kennst du unser Erbe?"
Es wurde still im Saal, nicht einmal ein Stoffrascheln hörte man. Der Greis antwortete nicht. „Kennst du das Buch Johannes, nach dem dein Haus benannt ist? Es ist ein Teil jener Heiligen Schrift, die unsere Vorfahren hierher brachten. Mir scheint, sie haben sie geliebt und gefürchtet zugleich, denn zum einen gaben sie unseren Familien Namen daraus, zum anderen aber versteckten sie das Buch im Haus Genesis." Vor wem hatten sie es versteckt? Hatte möglicherweise eine Familie, die die Heilige Schrift schätzte, sie vor einem tyrannischen Patriarchen verborgen, der danach trachtete, das Buch zu vernichten?
Kantur Gotha sagte: „Deine Märchen werden dich nicht retten, Arrick Aargrefe!
Meinst du, du kannst die Ältesten Vulgatas zum Narren halten?"
„Fragt ihn", sagte Arrick, „fragt den Patriarchen nach der Heiligen Schrift."
Einer der Ältesten rief: „Merkt ihr nicht, wie der Junge uns in die Irre zu führen versucht? Jetzt sollen wir über ein Schriftstück reden - dabei sind wir hier zusammengekommen, um ihn für Mord, Raub und das Zusammenrotten von Aufrührern zu verurteilen! Bestimmt ein Fünfzehnjähriger den Rat Vulgatas?"
Wütendes Gemurmel brauste auf.
Arrick flehte: „Hört mir zu! Warum sind wir nach Vanderbeyten geflohen? Wegen unseres Glaubens! Haben wir diesen Glauben noch? Die Häusernamen beweisen, dass unsere Vorfahren der Heiligen Schrift vertraut haben. Sie haben Vulgata darauf gegründet. Ich finde in der Heiligen Schrift aber keine 520 Gesetze, sondern nur zehn! Wo auch immer ich sie aufschlage, spricht sie von Liebe! Was, wenn Gott als Herr des Lebens ganz anders ist, als wir ihn in Vulgata zu kennen meinen? Was, wenn er als die treibende Kraft die Liebe bestimmt hat und nicht das Gesetz?"
Nun brach endgültig Tumult aus. Kantur Gotha trat an Arrick heran und packte ihn im Genick. Mit einem perfiden Griff seiner Finger zwang er ihn in die Knie. Es war ein Schmerz, dem Arrick nicht widerstehen konnte, er musste gehorchen und tun, was ihm die Hand des Patriarchen auftrug. Laut ächzte er.
Eine Handglocke brachte die Familienoberhäupter zur Ruhe. „Arrick Aargrefe, trittst du von deinen Behauptungen zurück und beugst dich unter das Urteil der Ältesten Vulgatas?", fragte der Patriarch. „Ich werde Gottes Weg nicht verlassen."
Kantur Gotha sagte: „Dann sprecht, was mit ihm geschehen soll, Ratsälteste."
„Sterben soll er! Sterben. Er muss sterben. Sterben. Sterben."
Sterben! Arricks Herz begann, panisch gegen seine Rippen zu schlagen. Der Schutzgürtel - konnte er ihn auch vor Spießen bewahren? Und vor Klingen? Und konnte er ihm helfen, aus einem gut bewachten Haus zu entkommen? Wie
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