232 - Höllisches Paradies
über der Insel bildeten wirbelnde Wolken einen Höllenschlund. Die Welt ist hinüber, dachte Stanislav. Der Komet hat uns den Todesstoß versetzt.
Er taumelte ein paar Schritte vorwärts und hatte bald den Grüngürtel erklommen. Dahinter erwartete ihn die nächste Überraschung. Wie mahnende Finger staken die Silhouetten von Fördertürmen in das Grau der pulsierenden Wolken. Richtig, vor zwei Jahren hatte man hier Öl gefunden, eine ganze Menge Öl. Es war durch die Presse gegangen: Die westliche Welt hatte gejubelt, denn die Energiekrise hatte zu politischen Zerreißproben geführt. Nun hatten sich neue Felder auf getan, die die Industrieländer vom arabischen Öl entlasteten.
Aber die Baracken schienen menschenleer. Keine Menschenseele, wohin Stanislav auch schaute. Waren die Menschen evakuiert worden?
Er stolperte eine Düne hinunter. Sein Schädel schmerzte. Eine Gehirnerschütterung?, dachte er – und blieb dann abrupt stehen. Oder etwa…
Er wagte den Gedanken nicht zu Ende zu führen, denn im selben Moment erinnerte er sich daran, dass er das Grauen auf diese Insel geflogen hatte. Es schauderte ihn bei der Vorstellung, dass die Behälter im Flugzeugrumpf leckgeschlagen waren und ihren tödlichen Inhalt jetzt in die Luft abgaben.
Stanislav Prodenko entschied sich, nicht weiter darüber nachzudenken. Entweder war die Fracht unbeschädigt geblieben – dann würde er weiterleben. Oder die Gifte und Erreger traten aus – dann würde er sterben. Schicksal …
Der Wind nahm zu. Schilder und Lampen klapperten wie in einer rodrigueschen Geisterstadt. Palmwedel mit scharfen Kanten wirbelten auf. Sand quirlte hoch und brannte Stanislav in den Augen. Der Himmel färbte sich zusehends schwarz. Aus einem azurblauen Mittag wurde tiefe Nacht.
Das muss von der Druckwelle kommen, vermutete Stanislav. Er kramte in seinem angelernten Pilotenwissen herum. Sie breitet sich ähnlich einer Seifenblase aus, wird zuerst im Hypozentrum reflektiert, was eine weitere Druckwelle schafft, die sozusagen im Fahrwasser der Primärquelle segelt. Erst in weiterer Entfernung entfaltet sich die Mach-Reflexion. Oder treffender formuliert: Es war das gottverdammte Ende der bekannten Welt! Deshalb musste er schnellstens Unterschlupf finden. Noch wenige Minuten, und hier würde keine Palme mehr neben der anderen stehen. Vielleicht fegte der Sturm ja auch die verfluchte Maschine von der Insel.
Stanislav lief ziellos hin und her, bis er auf eine im Boden versenkte Metallklappe stieß. Ein Aufdruck in Englisch und einer unbekannten Sprache in lateinischer Schrift – Indonesisch? – wies sie als Zugang zu einem Schutzraum aus! Hier hatte jemand vorgesorgt.
Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Nichts regte sich. Dann suchte er sich einen Stein und wiederholte das Klopfen. Und endlich wurde die Tür aufgestoßen. Eine asiatisch wirkende Frau mit einem langen geflochtenen Zopf strahlte ihn an, mit leuchtenden Augen, die sich aber augenblicklich wieder verdunkelten. In einer Sprache, die Stanislav unbekannt war, stellte sie eine Frage. Ohne nachzudenken, vom Überlebenswillen getrieben, schob Stanislav die Frau zur Seite und fand sich in einem höhlenartigen Raum wieder. Trübes Licht, vermutlich von Notstromaggregaten betrieben. Die Tür schlug zu. Die Frau gestikulierte und fing an zu weinen. Ein bärtiger Kerl, so breit wie hoch, nahm sie in den Arm und strich ihr mit seiner Pranke über den Rücken. Über ihre Schulter hinweg musterte er den Fremden mit zusammengekniffenen Augen. Seine Worte kamen kurz und abgehackt. Stanislav vermutete, dass es Indonesisch war.
»Spricht hier jemand Russisch oder Englisch?«, fragte er in beiden Sprachen zurück. Keine Antwort.
Endlich gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht. An den Wänden saßen, hockten oder lagen etwa fünfzig Männer und ungefähr halb so viele Frauen. Manche Männer trugen noch ihre Arbeitskleidung. Es stank nach Öl und Schweiß. Und nach Angst.
Eines schien klar: Die Frau hatte jemanden erwartet. Jemanden, an dem ihr eine Menge lag.
Stanislav machte das Zeichen für Trinken. Der Bärtige schob die Frau sanft zur Seite. Er baute sich vor Stanislav auf und deutete auf die Tür. »You not welcome«, sagte er in gebrochenem Englisch. »Go out!« Seine Worte klangen schwer und bedrohlich.
»Wie wär’s denn mal mit Gastfreundschaft?« , murmelte Stanislav. Sie haben Angst. In ihren Augen bin ich ein Eindringling. Ich bin nicht der, auf den sie warten. Ich bin
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