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233 - Enklave der Träumer

233 - Enklave der Träumer

Titel: 233 - Enklave der Träumer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stern
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Wahnsinn!«, entfuhr es Herak.
    »Wahnsinn?« Die Frau beugte sich zu ihm hinab und hob sein Kinn an. Herak versuchte hinter dem dichten Schleier etwas zu erkennen und scheiterte. Er konnte nicht einmal sagen, ob sie jung oder alt war. Doch sie bewegte sich wie eine jugendliche Frau. Auch ihre Stimme war kräftig und jung. »Wahnsinn?« Ihr Fingernagel grub sich in seine Wange, durchstieß die weiche Haut mit Gewalt. »Es ist Gottesdienst! Seid dankbar wie wir. Dankbar über die nahende Erlösung. Ich werde euch einen besonders schönen Tod zukommen lassen… Ihr werdet ihn genießen, meine Freunde…«
    »Ich weiß, was dir fehlt«, meinte Kiras ungehalten. »Guter Sex und eine Tracht Prügel. Mal ehrlich, Paggi, willst du mich wirklich umbringen?«
    Herak atmete krampfhaft die Luft ein. Paggi? Kiras Gefährtin? Konnte es sein? Kannte er daher diese Stimme? »Paggi? Du steckst hinter diesem ganzen Irrsinn?«
    Die verschleierte Frau ließ ihn los und zog den Dolch aus ihrem Gürtel. Ihre Stimme veränderte sich. Sie wurde hart und spröde. »Ich bin nicht mehr Paggi. Ich bin die Braut Straitars. Seine Dienerin. Und ihr beide werdet sterben!« Sie stieß mit dem Dolch auf Kiras Auge zu.
    »Warte!« In Kiras Stimme lag nun Panik. »Erinnerst du dich denn nicht? Ich bin den ganzen weiten Weg von Guura hierher gekommen, um dich zurückzuholen! Die anderen vermissen dich!«
    Paggi hielt tatsächlich in der Bewegung inne. Herak stockte der Atem.
    Die Frau in Weiß klang nun nachdenklich. »Das war ein anderes Leben. Es ist vorbei.« Sie betrachtete Kiras versonnen. »Viel ist geschehen, seit ich dich verließ, Kiras. Ich bin auserwählt«, meinte sie leise. »Ja, auserwählt. Doch du sollst es verstehen. Du und dein Begleiter. Ihr sollt wissen, was mir widerfuhr…«
    Sie ließ den Dolch sinken und trat zurück. Stille breitete sich in der Halle aus. Dann begann Paggi zu erzählen…
    ***
    Australiens Südküste, über dem falschen Uluru, sechs Monate zuvor
    Die Frau in dem Boot war ausgezehrt und müde. Seit Tagen trank und aß sie kaum mehr. In ihren Gedanken gab es nur IHN und ihre Träume. Lange schon schreckten sie die Bilder der Vernichtung nicht mehr. In farbenfroher Schärfe sah sie den Untergang der Welt. ER würde kommen. Und es würde die Erlösung sein.
    Hin und wieder hatte sie Zweifel. Sie hatte Kiras zurückgelassen, ohne ihm von ihrem Aufbruch zu erzählen. Dabei war er immer gut zu ihr gewesen. Sie hatten schwere Zeiten durchlebt, seitdem sie aus dem Paak vertrieben worden waren. In dem kleinen Dorf Guura hatten sie eine zweite Heimat gefunden. Doch die Träume ließen Paggi keine Ruhe. Sie musste weiter. Weiter nach Süden.
    Träge blickte sie auf. Nur Wasser ringsum – und doch spürte sie, dass sie hier richtig war. Dies war der heilige Ort. Hier würde sich ihr der Herr offenbaren oder ihr Opfer annehmen.
    Kehr um, flüsterte eine verängstigte Stimme in ihrem Kopf. Kehr um, bevor du endgültig verloren bist…
    Sie konnte nicht umkehren. Sie war eine Kriegerin der Perons und würde nicht davonlaufen. Selbst dann nicht, wenn der Herr ein Dämon war, der sie getäuscht hatte.
    Sie stand auf und riss sich die zerschlissenen Kleider vom Leib. Ihren Dolch nahm sie zwischen die Zähne.
    Erlösung… Erleuchtung… Straitar ruft mich …
    Paggi zuckte zusammen. Den Namen Straitar hörte sie hier in ihren Gedanken zum ersten Mal. Sie blickte zur untergehenden Sonne hin. Sie versank in den schimmernden Wellen.
    Straitar liebt mich…
    Sie sprang mit dem Kopf voran in das Wasser. Zielstrebig tauchte sie. Ihr Willen war eisern. Tiefer und tiefer schwamm sie hinab. Obwohl sie nichts sehen konnte, spürte sie Straitar tief in sich. Sie war ihm nah. Ihre Sicht verschwamm mehr und mehr. Der Wunsch zu atmen wurde mächtig. Doch nicht mächtig genug. Etwas anderes trieb sie. Es zog sie an wie ein Magnet. Dort unten wartete die Erleuchtung. In der Tiefe. Sie musste nur lange genug tauchen, um IHN zu finden.
    Ich bin auserwählt. Ich werde es schaffen. Ich bin stark.
    Meter um Meter arbeitete sie sich in Tiefe. Das Wasser wurde dunkler und kälter. Paggi fühlte es nicht.
    Straitar. Das Wort pulsierte gemeinsam mit ihrem Blut durch sie hindurch. Straitar. Mein Herr.
    Als sie begriff, dass sie jenen geheimnisvollen Ort unter sich nicht erreichen konnte, war es zu spät. Paggi wehrte sich nicht. Sie folgte dem Sog einfach weiter. Und weiter. Bis sie das Bewusstsein verlor. In ihren Gedanken wirbelten die verrücktesten

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