233 - Enklave der Träumer
hier überlebte. Ein aufgezeichnetes Spinnennetz in rotbrauner Farbe bedeckte es. Er ging barfuß und trug nur einen Lendenschurz. An seiner Seite baumelte neben einem Messer in einer zerschlissenen Lederscheide ein großer Bund Schlüssel. Damit hatte er auch das Gitter des Verschlages geöffnet. Demütig senkte der Hüne den Blick. Er wagte es anscheinend nicht, der Frau auf dem Steinblock ins verhüllte Gesicht zu sehen.
Die anderen beiden Wachen hielten Herak und Kiras gepackt.
Die verhüllte Frau richtete sich auf. »Was wollt ihr? Warum stört ihr mich in den heiligen Versenkungen? Noch ist die Dämmerung nicht gekommen!«
Ihre Stimme war herrisch und unnachgiebig. Sie sprach einen Dialekt, den Herak hervorragend verstand.
»Vergebt uns, Herrin!«, meinte der feiste Mann unterwürfig. »Aber diese hier sind Gefangene, die wir als Ungläubige erkannten. Sie behaupten, Straitar sei ihnen in einer Vision erschienen.«
»Ist das so…« Die Herrin klang plötzlich wie ein kleines Mädchen. »Eine Vision meines Gemahls und Gebieters…« Sie klatschte in die Hände. »Fesselt sie und lasst uns allein!«
Die Wachen taten wie geheißen. »Wir werden in Rufweite bleiben, wenn Ihr es wünscht.« Der Erste Wächter wartete auf Knien ihre Entscheidung ab.
»Macht das, Karzar. Doch fürchtet euch nicht. Straitar ist bei mir, und sollten diese Lumpen es wagen, seinen heiligen Namen zu missbrauchen, werden sie in einem Flammenmeer vergehen!«
Der Irrsinn in diesen leidenschaftlichen Worten war gut zu hören. Die Frau glaubte, was sie sagte. Warum nur kam ihm ihr Akzent so vertraut vor? Ob sie aus dem Norden stammte? Herak schüttelte leicht den Kopf. Es gab auf dem Kontinent sicher viele, die so sprachen, das hatte nichts zu bedeuten…
Die Wachen stießen Herak und Kiras auf die Knie, vollendeten ihr Werk und verließen den Raum. Herak bewegte sich vorsichtig, so weit der Spielraum es zuließ. Sie hatten ihm die Handgelenke hinter dem Rücken an die Fußgelenke gebunden. Es gab keine Chance aufzustehen. Die Fesseln saßen eng und schnürten seine Haut ein.
»Ihr hattet also eine Vision des Herrn«, meinte die Frau freudig, wie eine Katze, die Milch witterte. Langsam stand sie auf und kletterte von dem Steinblock hinunter. Sie bewegte sich geschickt, als sei sie das Klettern durch unebenes Gelände gewohnt.
Bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Ihre nackten Zehen lugten unter dem blutverschmierten Saum hervor, ehe er sie raschelnd wieder bedeckte. »Was sagt denn der Herr?«
»Er wird kommen«, meinte Kiras fest. »Er wird kommen, um sich mit seiner Geliebten zu vereinigen! Mit seiner Braut!«
Die Frau blieb stehen. »O ja. Das wird er. Ankommen. Sich vereinigen… Ein Ende bereiten… Endlich…« Sie stand einen Augenblick reglos. »Musik. Musik wäre jetzt schön. Ich will tanzen…« Sie machte eine Drehung nach rechts. Ihr Kleid flog auf, bauschte sich. »Tanzen auf den Gräbern der Menschheit! Tanzen in den Armen des Todes…« Sie wiegte sich durch den Raum, machte eine zweite Drehung und blieb schließlich mit weit ausgestreckten Armen wie abgeschaltet stehen. Nur langsam kehrte wieder Leben in sie zurück. »Und was genau hast du gesehen in deiner Vision, Bursche?« Sie drehte sich zu den Männern um.
»Schatten«, entgegnete Kiras prompt. Herak bewunderte ihn für seine Kaltblütigkeit. Er selbst war nie der beste Lügner gewesen, doch sein ehemaliger Feind verstand einiges davon.
»Schatten, ja!« Die Frau lachte hell auf. »Schatten! Alles wird in Schatten untergehen! Und die Schönheit der Zerstörung wird obsiegen… Bald…« Sie ging noch einige Schritte, bis sie genau zwischen Herak und Kiras stand. Ihre Hände lagen leicht wie Federn auf den Schultern der Männer. »Ich mag euch. Ihr seid großartig. Das Dumme ist nur… Ich bin die Braut Straitars. Alles was ihr sagt, stimmt. Doch Lügner seid ihr trotzdem. Alle beide.«
Herak spürte eine eisige Kälte in seinem Innern. Konnte sie ihn und Kiras tatsächlich so leicht durchschauen? Hatte sie besondere Kräfte wie Nao? Gab es diesen Gott wirklich? Stand sie unter seinem Schutz? Anscheinend führte seine Idee ihn und Kiras direkt in den Abgrund der Hölle…
»Ja«, fuhr die Frau versonnen fort. »Straitar erschien euch nicht. Ich spüre es. Niemandem hier hat er sich so offenbart wie mir. Niemand hier ist wahrhaft würdig. Aber quält euch nicht. Ich mag euch. Ich werde euch ein schnelles Ende bereiten…«
»Das ist doch
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