2359 - Das Stumme Gesicht
ging keuchend, aber gleich hatte sie es geschafft. Mit aller Kraft sprang sie auf die metallische Unterkante der Luke zu, erreichte sie gerade noch, ignorierte den Schmerz, als ihr gesamtes Körpergewicht an den Fingerspitzen hing und die schmale Einfassung tief ins Fleisch schnitt, hievte sich an der glatten Fläche hoch. Schokoll stellte sich geduckt auf die energetisch abgestützte Plattform, die nach außen krängte. Mit ungeheurer Wucht traf sie der Wind. Drei Feliden, die soeben ihr Tagwerk vollenden wollten, starrten sie mit vor Erregung zitternden Barthaaren an.
Geschafft!, dachte Schokoll befriedigt, trat vor, blickte hinauf in die Dunkelheit und hinab auf das Lichtermeer der großen Stadt. Sie tat einen Schritt nach vorne, hinein ins Leere, fühlte, wie es ihren Magen hob, als sie hinabstürzte, auf die Lichter zu. Nein.
Die Priester des Herrn des Siebten Ta- ges hatten nicht recht. Man erfuhr keinerlei Ekstase in den letzten Augenblicken des Todes. Man starb einfach.
*
Kirmizz löste sich im letzten Moment vor dem Aufprall aus dem Bewusstsein der Hauri. Schokoll hatte ihren Auftrag so ausgeführt, wie er es gewünscht hatte.
Seine Suchbotschaft würde von nun an unbemerkt in regelmäßigen Abständen vom Funkturm aus abgestrahlt werden. Die Kodierung trug ein Siegel der XIX.
Kosmität, der Inhalt bestand aus einem simplen Anfrageimpuls an die BANDA SARI und einem Hinweis auf seinen Aufenthaltsort. Die Nachricht war sorgfältig in jene Botschaft eingewoben, mit der lazaruuweit nach Hinweisen nach Naigon, also ihm selbst, gesucht wurde.
Alle Spuren, die auf das Vorhandensein des in winzige Fragmente zerhäckselten Kodes schließen ließen, waren durch das Vorgehen Schokolls hinreichend abgedeckt. Die Hauri hatte keinerlei Spuren am Arbeitsplatz Mehamels hinterlassen.
Die drei Kartanin, die die Öffnung zu ihrem luftigen Arbeitsbereich nicht abgesichert hatten, würden für ihre Nachlässigkeit zweifellos zur Rechenschaft gezogen werden. Dass einer von ihnen ebenfalls von Kirmizz beeinflusst wurde und die energetische Absicherung entfernt hatte, ahnte niemand.
Der Freitod der Frau würde, wenn er die Mentalität der Hauri richtig einschätzte, als religiös bedingter Akt des Wahnsinns beurteilt werden. Solche Dinge passierten in der starren, von komplexen Regeln überdeckten Zivilisation der Hageren immer wieder. Selten, aber doch.
Kirmizz befahl dem Uhm, so rasch wie möglich weiterzukriechen. Weg von dem Ort, an dem sich eine Menschenmenge rings um den Leichnam Schokolls sammelte. Auch der Unbekannte stand dort und sah sich aufmerksam um.
Kirmizz orderte Pom'Len-Kier zu sich. „Ja, Herr?", flüsterte ihm die Kartanin durch die Hülle seines Quartiergebers zu. „Ich habe einen weiteren möglichen Gegner ausgemacht."
„Sollen wir ihn töten?"
„Nein. Sieh ihn dir erst einmal an."
Kirmizz wies auf den Grauhäutigen. „Kennst du Wesen seiner Art?"
„Nein. Aber das hat nichts zu bedeuten. Es gibt Angehörige Hunderter exotischer Völker in La Untique."
„Überprüfe, ob dieser dort einer bekannten Spezies entstammt. Finde so viel wie möglich über ihn heraus. Vor allem muss ich wissen, ob er mit der Ay'Va zu tun hat.
Welche Ziele verfolgt er? Haben sie vielleicht mit mir zu tun? Ist der Mann ein Einzelgänger,. oder hat er Komplizen?"
„Wird erledigt, Herr."
Pom'Len-Kier schlich davon, verschmolz binnen weniger Augenblicke mit dem Schatten eines Gebäudes, dessen bröckelige Außenfront mit riesigen Kalkmuscheln besetzt war. Kirmizz musste sich nicht weiter um diesen Teilaspekt seiner Planung kümmern. Die Kartanin würde sich mit weiteren Mitgliedern seines stetig wachsenden Trupps in Verbindung setzen und dafür sorgen, dass der Auftrag ausgeführt wurde. Kirmizz oblag lediglich die gedankliche Kontrolle.
Der Uhm verließ jenes mondäne Umfeld, das rings um den Funkturm für einen kleinen Lichtblick inmitten der Tristesse der Stadt La Untique sorgte. Schäbige und abgewohnte Bürgerhäuser bildeten einen schmalen Ring um das Technologiezentrum; bald danach begannen die Slums. Siedlungsgebiete, deren Bewohnern der Glanz des mit seinen Hyperfunktechniken weit ins All hinausfühlenden Turms zum Synonym für Sehnsucht und gleichzeitig Unerreichbarkeit geworden war.
Kirmizz verstand nicht, warum die Bewohner von Vibe-Lotoi auf diesem Dreckshaufen sitzen blieben. In für Außenstehende undurchschaubaren Rangkämpfen traten sie gegeneinander an, um sich über andere zu erheben.
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