2370 - Die Milliardenstadt
denn weitermachen?
Den ursprünglichen Plan verfolgen und seine Eltern im Wirrwarr der riesigen Stadt suchen? Bereits nach wenigen Minuten war er gescheitert und hatte seine Neugierde beinahe mit dem Leben bezahlt.
Wie sollte er sich hier jemals zurechtfinden?
Die Erinnerung an die enthaupteten Ordin-Priester war da, und sie würde bleiben. Sie erfüllte ihn mit Schrecken - aber niemals mehr würde sie eine derartige körperliche Reaktion herbeiführen. Insofern hatte er einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan.
Und er wusste nun, warum er davongelaufen war: Die Angst hatte ihn getrieben. Die Last einer schrecklichen Verantwortung wartete im Quartier Lemurica auf ihn. Hier jedoch, in der Anonymität der Stadt, konnte er sich verstecken, während die Erinnerungen allmählich verblassten. Vielleicht würde er niemals wieder so gut essen können, wie er es in der alten Heimat getan hatte. Doch dieses Manko wurde durch alle anderen Vorteile, die ihm Adur Bravuna hoffentlich bot, aufgewogen. „Wir werden uns keinesfalls bei einem Stadtwärteramt melden", sagte er schließlich zum Robtrix. „Du bleibst vorerst bei mir und wirst mir helfen, mich in der Stadt zurechtzufinden."
Helferlein-Einsacht beugte seinen Körper wie unter Schmerzen. „Ich verstehe. Aber du musst davon ausgehen, dass sich während der nächsten drei Tage meine Energievorräte endgültig entleeren und ich außer Funktion trete."
Aheun hatte alle Zeit der Welt. Er wollte eintauchen in dieses Universum neuer, fremder Gerüche und Lebensweisen, er wollte sehen und lernen und spüren.
Die Zugstation, in deren Nähe er überfallen worden war, befand sich in „275". „Was bedeutet das?", fragte er Helferlein-Einsacht. „Hauptbezirk Zwei, Subbezirk Fünfundsiebzig. Wir befinden uns rund einhundert Kilometer südlich der Stadtgrenze zum Quartier Lemurica. Um, wie von dir gewünscht, in den Sektor 2412 zu gelangen, müssen wir noch gut siebenhundert Kilometer zurücklegen."
„Und wie weit geht es himmelwärts?"
„Mehr als zweihundert Meter."
Aheun blickte an gewaltigen Betonpfeilern vorbei nach oben. Nebel hing zwischen den Häuserburgen. Aus schmalen Fenstern in noch schmaleren Lichthöfen hing abgenutzte Wäsche an Teleskop-Trockenstangen. Männer brüllten, Frauen kreischten, Kinder weinten. Eine Kunststoffflasche fiel herab und prallte knapp neben dem Priester auf. Aus einer Bodenklappe wuselte ein Robtrix hervor.
Er sperrte sein breites Maul auf, zerquetschte das Gefäß und verschluckte es schließlich, um gleich darauf wieder in seinem Reich zu verschwinden. „Unter der Bodenwartungsschicht beginnt Schattenreich-Eins. Diese Zone beherbergt meist kleinere Fertigungsanlagen, Cyclo-Sammelstellen und Buden der Kleinunternehmer. Je weiter du nach unten vordringst, desto größer werden Verwahrlosung und Armut."
„Und ganz unten auf Bodenniveau?"
„Es gibt kein Bodenniveau im herkömmlichen Sinne. Heutzutage gibt es keine einheitliche Nivellierung des Stadtgebietes mehr. Teilweise wurden Häuser auf dem Schutt der alten, abgebrochenen hochgezogen; teilweise reichen sie tief in den Erduntergrund hinein."
„Leben denn dort unten auch Raphanen?"
„Ja. Allerdings gibt es keine verbindlichen Informationen darüber, wie es unterhalb von Schattenreich-Sechs aussieht. Die Stadtwärter gehen ohnehin nicht so weit hinab, und die Räum-Robtrix interessieren sich nicht dafür, was dort unten vor sich geht. Die Bewohner versorgen sich selbst, besitzen möglicherweise sogar eine eigene Form der Verwaltung. Vielleicht gibt es zu deinen Füßen eine Stadt unterhalb der Stadt?"
Helferlein-Einsacht lehnte sich gegen einen Betonsockel, als wäre er müde. „Ich möchte gerne weiter nach oben", sagte Aheun. Irritiert wich er dem Strom Hunderter Raphanen aus. Ein Zug hatte sie ausgespien. Die müde wirkenden Frauen und Männer verteilten sich zwischen den Gebäuden und strebten auf seltsam antiquiert wirkende Drahtkäfige zu. „Dann müssen wir eine Vertikalpassage nutzen. Mit Hilfe deiner ID-Karte kannst du sicherlich ein Fahrticket kaufen."
Aheun überlegte. Anhand der Legitimation, die er der toten Calazi Matmu abgenommen hatte, konnte jeder seiner Schritte verfolgt werden. „Ich möchte darauf verzichten. Kann ich trotzdem irgendwie in die Himmelszone gelangen?"
„Wenn du dafür bezahlst."
„Bezahlen? Ich habe davon in den Trivid-Sendungen gehört. Man tauscht Ware gegen diese runden Chips in verschiedensten Farben, nicht
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