238 - Herz aus Eis
Wunde war noch da. Die Schmerzen waren stark, aber nicht so heftig, dass er nicht aufstehen konnte. Noch immer war ihm übel und er hatte großen Durst.
Er sah sich in dem Raum um. Außer den Stofffetzen und Kleidern war nichts zu erkennen. Und eine offen stehende Tür. Nach dem, was die Frau gesagt hatte, sollte sie in die Freiheit führen. Eine trügerische Freiheit, denn über den implantierten Chip würde man ihn jederzeit orten können.
In dem Glauben, dass Agat’ol sie nicht verstehen konnte, hatten ihm die Menschen die Chance zur Flucht ermöglicht.
Ohne seine Sprachkenntnisse würde er wohl annehmen, man hätte ihn für tot gehalten und entsorgt. Nun, er wusste es besser.
Agat’ol wühlte in dem stinkenden Haufen und fand ein weißes Baumwollhemd, das kaum Blutspritzer trug. Es musste einer sehr kleinen Frau gehört haben, oder einem Kind. Besser als nichts angesichts der draußen herrschenden Temperaturen. Seine Flossenhand umklammerte das Gewand. Sollte er sich nicht lieber noch einen Moment ausruhen? Ihm war schwindelig und seine Zunge war trocken wie ein an Land gespülter, ausgedörrter Schwamm.
In der Ferne hörte er das Bellen von Hunden. Würden sie die Bestien auf ihn hetzen, wenn er nicht schnell genug verschwand? Agat’ol stolperte auf die Tür zu. Er musste einen Weg finden, die Oberflächenkriecher zu überlisten. Vielleicht konnten die Warlynnes ihm helfen und den verdammten Chip aus seinem Schädel holen. Schließlich hatten sie auch Hagenau operieren wollen.
Sein Vorteil war, dass die Menschen nichts von dem Gleiter wussten. Wenn er ihn erreichte, würde er damit ans andere Ende der Antarktis fliegen können, so weit entfernt, dass ihnen der Chip nichts mehr nutzen würde.
Übelkeit würgte Agat’ol. Er hatte geglaubt, in der Gefangenschaft der Barbaren, die ihn zum Fleischfresser gemacht hatten, schon das Schlimmste erlebt zu haben. Jetzt musste er erkennen, dass er sich irrte. Sie hatten aus ihm ein Spielzeug gemacht, eine willenlose Marionette, die auf Knopfdruck in die Knie sank.
Das Bellen wurde lauter und bedrohlicher. Agat’ol zögerte nicht länger. Er zog sich das Baumwollhemd an und stolperte hinaus in den Tunnel. Die Gänge waren kahl. Der Boden aus hartem Kunststoff fühlte sich kalt unter seinen Füßen an. Beim ersten abzweigenden Gang wählte Agat’ol den, aus dem kein Hundegebell drang. Er beeilte sich voran zu kommen, während sich seine Gedanken weiter um seine Flucht drehten.
Vielleicht fand er einen See oder einen Bach, in dem er Zeit gewinnen konnte. Im Wasser war er schneller als an Land. Zudem würden die Hunde ihn nicht mehr wittern können.
Eine halbe Stunde lang stolperte er vorwärts. Seine Hände suchten immer wieder Halt an den glatten Wänden. Endlich erreichte er das Ende des Tunnels. Eine metallene Leiter führte nach oben zu einer kreisrunden Luke.
Agat’ol nahm seine Kräfte zusammen und kletterte hinauf. Neben der Luke war ein Rad, das Agat’ol drehen konnte. Er zerrte mit aller Gewalt. Fast wäre er von der Leiter zwanzig Meter hinab auf den Tunnelboden gestürzt.
Reiß dich zusammen, du schaffst das, ermutigte er sich. Um sich aufzubauen, stellte er sich vor, die Lungenatmerin mit der goldenen Brille langsam und grausam zu töten.
Das Rad gab unter seinen Anstrengungen nach, die Luke schwang auf und ein kühler Nachtwind schlug Agat’ol entgegen. Der Hydrit zog sich erschöpft nach draußen. Er lag auf einem Stück Wiese, das sehr kurz geschnitten war. Nicht weit entfernt ragte ein kleines Fähnchen in die Luft. Eine Markierung der Menschen, um sich zu orientieren?
Im kalten Licht der Sterne sah er sich um. Es gab mehrere dieser Fähnchen. Kleine Löcher waren in ihrer Nähe. Ihre Funktion war Agat’ol fremd. Vereinzelte Inseln aus Farnen wucherten hier und da. In hundert Metern Entfernung ragte ein Wald auf, über dem gazeähnliche Lichter tanzten. Himmelsgeister, die er auch vom Gleiter aus bereits beobachtet hatte. Ihr Leuchten tauchte die Welt in einen sonderbaren Schein. Ein Gebäude oder Anzeichen, dass sich hier Menschen aufhielten, konnte er nicht erkennen.
Agat’ol war wie vor den Kopf geschlagen. Dies war nicht die Gegend, in der sie gelandet waren! Man musste ihn während seiner Ohnmacht in eine andere Station gebracht haben! Wie sollte er jetzt den Gleiter wieder finden?
Erst einmal weg von hier! Schwer atmend rappelte Agat’ol sich auf und humpelte in Richtung Wald davon. Er hatte schon so lange nichts mehr gegessen
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