238 - Herz aus Eis
als Militär hatte Crow eines gelernt: Frechheit siegt. Er schritt so zielsicher durch die Gänge, dass niemand auch nur auf die Idee kam, ihn anzuhalten und nach seinem Ziel zu fragen. Dabei kam es ihm zupass, dass er nur auf niedere Chargen traf; dem Prime zu begegnen hätte seinen Plan ernsthaft gefährdet.
Der gezeichnete Plan der Station war präzise ausgearbeitet. Mit einem Aufzug fuhr er zwei Stockwerke hinab. Er hoffte, dass sich derzeit niemand im Archiv aufhielt, und wieder hatte er Glück. Im Aufzug begegnete ihm niemand, und auch der Gang zum Archiv war verwaist.
An der Tür wurde der Zugangscode gefordert. Crow musste nicht einmal auf den Zettel blicken. Er hatte die achtstelligen Codezahlen vorsorglich auswendig gelernt, falls er den Zettel vernichten musste. Gewissenhaft gab er die Zahlenkombination ein und zog die Karte durch ein Lesegerät.
Die Stahltür öffnete sich zischend, und der General trat in einen menschenleeren Raum voller Metallschränke und Regale. Er trat an den Schrank, der ihm am nächsten war, öffnete ihn und überflog die Namen der darin deponierten Aktenstapel. Auf vergilbten Pappzetteln standen die groben Themengebiete: Geschichte der Station, Hundezucht, Flora- und Fauna, Technische Daten, Konversation und Verträge mit anderen Stationen… Es war eine vielfältige Mischung, die jede Menge Informationen versprach. Aber wo konnte er etwas über die Superwaffe der Hydriten finden? Wo versteckten sich die Hinweise, die er so verzweifelt suchte? Es musste sie geben. Mills wusste etwas. Die Briten wussten etwas. Davon war Crow überzeugt.
Er griff wahllos in einen Stapel, um zu sehen, welcher Art die verfassten Berichte waren. Es war ein Stapel des Geschichtsbereichs. Er klappte den Ordner auf.
10. Juli 2132
Der Winter tobt. Ewige Nacht. Die Kälte ist ein Monster, dessen Klauen und Zähne töten, was sich ihm in den Weg stellt.
Es gab Nachwuchs bei den Hunden. Aber noch immer kein Nachwuchs bei uns. Nur noch fünfzehn Menschen. Wir drohen auszusterben, die Station allein zurückzulassen.
Was ist mit Halley? Die anderen wollten kommen. Sie wollten Fleisch mitbringen. Im letzten Funkspruch hieß es, sie hätten Halley komplett aufgegeben und sich mit allem, was sie noch besitzen, auf den beschwerlichen Weg zu uns ins Mary-Byrd-Land gemacht. Gemeinsam könnten wir dem ewigen Winter vielleicht trotzen. Ob sie noch am Leben sind? Ob sie wirklich Fleisch mitbringen?
Manchmal habe ich grässliche Albträume. Träume von dunkelhäutigen Menschen, die den Spieß umdrehen und mich über den Feuern braten. Es gibt kaum noch Tiere. Nur die Hunde sind zäh. Vielleicht können sie uns eines Tages ernähren. Aber bis dahin müssen wir essen, was es zu Essen gibt. Mir schwindelt, wenn ich an die Erklärung denke, die ich unterschrieben habe. Der letzte Schritt von der Zivilisation in die Barbarei. Das Dekret der Nichtmenschen. Die offizielle Erlaubnis, Menschenfleisch zu essen, falls ein Nichtbrite in unserem Territorium zu Tode kommt. Seitdem steigt die Zahl der tödlichen Unfälle, die Nicht-Briten betreffen. Besonders Chilenen und Argentinier sind betroffen.
Was soll ich tun? Eve muss essen. Eve muss überleben. Ohne meine Frau bin ich nichts.
Crow legte den Bericht zur Seite und verzog verächtlich die Mundwinkel. Hatte Sir Thomas Doyles ihm nicht versichert, dass man hier im antarktischen Reich der Briten niemals die Zivilisation verloren habe? Dieser Bericht sagte etwas anderes aus.
Der General überflog weitere Dokumente. Alles spannende historische Zeitzeugenberichte, doch nirgends war von einem außergewöhnlichen Waffenfund im ewigen Eis oder fremdartigen Schriftzeichen die Rede.
Er seufzte und ging zum nächsten Metallschrank. Er war über und über voll gestopft mit medizinischen Daten. Zuoberst lag ein Bericht, der seine Aufmerksamkeit erregte. Er trug den Titel: »Bericht über die Anatomie und die geistige Beschaffenheit der Fischmenschen, erarbeitet von Margareth Willson während Operationen im Februar 2525«.
Fischmenschen? Hydriten also? Crow nahm den Bericht in die Hand und blätterte die Seiten durch. Sie waren eng beschrieben und mit Zeichnungen versehen. Sie zeigten Geschöpfe mit Schuppenhaut und einem einzelnen Scheitelflossenkamm – Agat’ol hatte davon zwei. Es waren ohne Zweifel Hydriten!
In der Abhandlung stand, dass sich erst vor kurzer Zeit die Gelegenheit geboten hatte, diese sonderbaren »Mutanten« zu untersuchen.
»Sie müssen die
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