Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
24 - Ardistan und Dschinnistan I

24 - Ardistan und Dschinnistan I

Titel: 24 - Ardistan und Dschinnistan I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
Brunnens beschäftigte meinen neuen Freund in außerordentlicher Weise. Er sagte, daß in der ‚Stadt der Toten‘ genau ganz derselbe Engel stehe, ohne daß aber jemand wisse, welchen Zwecken er gedient habe, als die Totenstadt noch voller Leben war. Als ich ihn fragte, was er unter dieser ‚Stadt der Toten‘ verstehe und wo sie liege, sagte er mir, daß es die alte Hauptstadt von Ardistan sei, die verlassen werden mußte, als der ‚Fluß des Friedens‘ plötzlich umgekehrt und nach Dschinnistan und dem Paradiese zurückgekehrt war. Diese herrlichste und ernsteste aller Ruinenstätten der Erde liege zwar nicht auf unserem jetzigen, geraden Wege nach Dschinnistan, aber er rate uns trotzdem, sie zu besuchen, weil sich uns im ganzen Leben niemals wieder ein solcher Anblick bieten werde.
    Als wir nach dem Felsentor zurückgekehrt waren, nahmen wir drei, er, seine Tochter und ich, das Abendessen oben ein, während Halef es sich hinunterholte. Er sagte zwar, dies geschehe der Pferde wegen, bei denen er während der Nacht schlafen werde, in Wahrheit aber erschien ihm die Gefahr des Abstürzens in der Nacht noch größer als am Tag, und darum hatte er sich entschlossen, in der sicheren Tiefe zu bleiben. Ich aber zog die Höhe vor, erstens um ihretwillen überhaupt, zweitens um der beiden lieben, hochinteressanten Menschen willen, mit denen ich den Abend verbringen wollte, um sie besser kennenzulernen, und drittens um des vulkanischen Feuers willen, welches man unten nicht sehen, oben auf dem hohen Tor aber jedenfalls noch besser beobachten konnte als auf der zwischen Baumkronen liegenden Tempelzinne der Ussul.
    Während ich mit Abd El Fadl beim Brunnenengel und seine Tochter mit Halef allein gewesen war, hatte letzterer die Gelegenheit benutzt, ihr soviel wie möglich von sich und mir zu erzählen. In ihrer Unbefangenheit wiederholte sie während des Essens das alles, damit auch ihr Vater es kennenlernen möge. Als er hörte, daß ich Schriftsteller sei und mehr als ein Buch geschrieben habe, schien sich sein Interesse für mich plötzlich zu verdoppeln. Er sagte aber noch nichts, sondern fragte mich zunächst nach dem Zweck und dem Inhalt dieser Bücher. Ich gab ihm Bescheid. Da schlug Merhameh die kleinen Hände zusammen und rief voller Freude aus:
    „So schreibst du ja über ganz dasselbe, worüber auch Vater schon so viel geschrieben hat! Du wirst in Dschinnistan ein lieber und willkommener Gast unseres Palastes sein und da in der Bibliothek die Bücher sehen, deren Verfasser er ist –“
    Sie hatte wohl noch mehr sagen wollen, hörte aber schon nach diesem Satz auf, weil sie den freundlich-strafenden Blick bemerkte, den ihr Vater auf sie warf. Sie errötete. Wahrscheinlich hatte sie nicht verraten sollen, daß er, der hier so einfach, ja ärmlich gekleidete Mann, daheim Paläste und Schlösser besaß und einer der höchsten Würdenträger des Reiches war. Er suchte den Eindruck ihrer Worte sofort wieder zu verwischen, indem er in bescheidenem Ton sagte:
    „Ich habe nur ein einziges Buch geschrieben, mit dem ich, ehrlich gesagt, noch gar nicht fertig bin. Der Reichtum des Stoffes erfordert viele Bände.“
    „Darf ich den Titel erfahren?“ fragte ich.
    „Kann es nach unseren Gesetzen ein anderer sein als nur mein Name? Du würdest wahrscheinlich ‚Insanija‘ sagen, die Menschlichkeit, die Humanität, ich aber, der ich Fadl heiße, sage nur ‚die Güte‘.Du hast dir die Aufgabe gestellt, in Reiseerzählungen nachzuweisen, daß es in jedem Konflikt des Lebens keine dauernde Siegerin geben kann als nur die wahre Humanität, die wahre Menschlichkeit. Ich behaupte ganz dasselbe von der wahren, menschenwürdigen Güte. Wir sind Brüder, du und ich! Unser Vater ist der Verstand und unsere Mutter die Güte. Laß uns als Geschwister gegeneinander handeln und auch unsere Leser bitten, dies zu tun, du die deinen und ich die meinen!“
    Er reichte mir seine Hand. Wie gern schlug ich da ein!
    Nach diesem Anfang konnte das weitere Gespräch sich unmöglich über alltägliche Dinge erstrecken. Ich entdeckte an diesem köstlichen Abend immer neue Vorzüge an dem hochgebildeten Vater unserer lieben, schönen Merhameh. Er war Staatsmann und Gelehrter; er war auch Dichter. Und ebenso war er auch Krieger, und zwar was für ein Krieger! Wir werden es im Verlauf der Tatsachen erfahren! Er schien für gewöhnlich ein schweigsamer Mann zu sein; heut aber sprach er gern. Und ich hörte ebensogern zu. Es war für mich eine ganz

Weitere Kostenlose Bücher