24 kurze Albträume (German Edition)
Jahren getragen hatte.
Bis die Albträume begannen. Zum ersten Mal am Tag nach Mirkos Beerdigung. Dann immer öfter, bis ihm die Bilder schließlich Nacht für Nacht den Schlaf raubten: Er sah Mirko auf seinem Motorrad die Straße zum Hof hinunterfahren – ohne Kopf, bis er irgendwann anhielt, um ziellos durch das Unterholz zu streifen, auf der Suche nach seinem Helm samt Inhalt. Anfangs half es noch, wenn er abends trank. Doch bald konnte Christian es weder leugnen noch in Alkohol ertränken: Mirkos Kopf würde ihm den Rest seines verfluchten Lebens zur Hölle machen. Immer wieder sah er den Kopf vor sich, so wie er ihn damals unter einem Busch gefunden hatte. Mit halb geschlossenen Lidern, den Mund zu einem grotesken Grinsen verzerrt.
Als sein Vater vor zwei Tagen vom Schlag getroffen worden war, hatte er die einmalige Gelegenheit erkannt, sein Leben zu ändern und sich von Mirkos Kopf zu befreien.
Entschlossen zog er den Reißverschluss seines Rucksackes auf und holte den Klappspaten heraus. Energisch stieß er den Spaten in die Erde, so wie damals. Drei Tage hatten Polizei und Feuerwehr vergeblich den Wald nach Mirkos Kopf abgesucht,den Kopf, der in eine Plastiktüte verpackt in der Scheune seiner Eltern lag.
Erst als Mirko ohne Kopf beigesetzt worden war, hatte er seine Trophäe aus dem Versteck geholt. Wie damals glitt der Spaten mühelos in die Walderde. Tief, sehr tief hatte er gegraben, um die Hunde und die Wildschweine nicht auf dumme Gedanken zu bringen. Sein Herz sprang ihm beinahe zum Hals heraus, als der Spaten endlich auf den Helm stieß. Mit zitternden Händen hob er ihn heraus und unterdrückte den Wunsch, ihn von sich zu schleudern. Doch in Mirkos Jethelm klebte nur noch ein erdverschmierter, hohläugiger Schädel, dessen Kinnlade lose herunterhing und der eigentlich nichts Bedrohliches mehr hatte. Trotzdem raste sein Puls, als Christian den Helm samt seines knöchernen Inhaltes im Rucksack verstaute. Hastig schaufelte er das Loch abermals zu und bedeckte die Spuren mit Laub.
Die Fracht auf seinem Rücken trieb ihn vorwärts, den Berg hinauf. Auf der anderen Seite der Bergkuppe lag das schlafende Dorf. In der neuen Siedlung brannten noch einige Lichter, doch um die Kirche herum war alles dunkel. Schwer atmend lehnte Christian sein Fahrrad an die Friedhofsmauer. Das Tor war geöffnet, das wusste er. Sein Puls rauschte ihm so heftig durch die Ohr en, dass er das Knirschen seiner Schritte auf dem Kies kaum wahrnahm. Von einem nie gekannten Grauen angetrieben, hastete er die Gräberreihen entlang, bis er vor dem geöffneten Grab seiner Familie stehenblieb. Dort hinunter musste er nun, wo der kopflose Leichnam seines Bruders bestattet lag, und graben. Denn morgen würde das Loch den Sarg des Vaters aufnehmen und zugeschüttet werden.
Christian ließ den Rucksack in die gähnende Öffnung gleiten, als er hinter sich plötzlich Schritte auf dem Kies hörte. Entsetzt fuhr er herum und starrt e die Frau an, die ein paar Meter entfernt vor ihm stand. Das blondierte Haar hing ihr struppig um den Kopf und die Schminke verlief auf dem vom Alkohol gezeichneten Gesicht.
»Marina!«
Grinsend kam sie näher, so dass er ihren Weinbrandatem riechen konnte.
»Marina, was...« keuchend wich er vor ihr zurück, in kleinen Schritten, bis der Absatz seines Schuhs die Kante des offenen Grabes erreicht hatte.
Christian erstarrte. In dem gähnenden schwarzen Loch hinter ihm raschelte etwas. Ganz deutlich drang das unverkennbare Kratzen eines Reißverschlusses und ein metallisches Knirschen an sein Ohr.
Christian schrie, riss die Arme nach vorne und versuchte, sich an Marina zu klammern. Doch sie war unerreichbar für ihn. Dann gab die Erde unter seinen Fersen nach, und er
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