24 kurze Albträume (German Edition)
Das wusste ich nicht. In Furcht, etwas getan zu haben, was auch mein Geschenk in Gefahr brachte, schlang ich beide Arme fest um meine neue Puppe.
»Darf ich mal zu ihm?«, fragte ich trotz meiner Furcht. Wer konnte es mir verübeln, diese einmalige Gelegenheit nutzen zu wollen? Verstohlen lugte ich zu ihm hinüber. Er stand mit zwei der anderen Männer zusammen und schien etwas zu bereden. Ich vermochte es nicht, einen einzigen Laut zu hören. Weder der Weihnachtsmann noch die anderen verursachten das geringste Geräusch. Kein Rascheln der Kleidung, kein Laut zerdrückten Schnees, wenn sie ihre Schritte taten. Nicht einmal Abdrücke hinterließen sie.
»Das geht jetzt nicht. Er hat eine Besprechung mit… ähm… dem Nikolaus und Knecht Ruprecht«, antwortete die Frau. Ich war enttäuscht, doch der Mann neben uns kicherte. Neugierig sah ich zu ihm hoch. Er hatte schwarze Augen. Dunkel wie die Finsternis einer Nacht ohne Sterne. Die Frau kniete sich zu mir herunter. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie ebenfalls schwarze Augen hatte. Ich streckte meine Hand aus und berührte ihre Wange. Sie war so kalt wieder der Schnee unter meinen Füßen.
»Seid ihr beiden Elfen?«, wollte ich wissen, denn das schien mir die einfachste Erklärung zu sein. Schließlich folgten sie den Weihnachtsmann.
Die Frau nickte lächelnd. »Wenn du uns so siehst. Ja, wir sind Elfen.« Nun, da ich das wusste, ging ich mich ganz nah an die Elfenfrau heran. Sie beugte sich zu mir herunter.
»Sagst du dem Weihnachtsmann, was ich mir wünsche? Ich möchte einen schönen Prinzen heiraten!«, flüsterte ich.
»Ja«, willigte die Elfenfrau ein und atmete dabei tief ein, als sei sie einem verführerischen Duft gewahr geworden. Ich bedankte mich und küsste ihr auf die Wange. Mit der Zunge fuhr sie sich kurz über die Lippen, als ob sie eine leckere Karamelle bekommen hätte. Dann wollte sie mich ebenfalls küssen - doch nicht auf die Wange – nein, sie wollte meinen Hals. Vielleicht machen Elfen das so, dachte ich. Gehorsam neigte ich den Kopf zur Seite und sah ein erwartungsvolles Glitzern in den Augen der Elfe. Als ihre Lippen beinahe meinen Hals berührten und ich bereits ihren Atem auf meiner Haut spürte, hörte ich auf einmal die Stimme des Weihnachtsmannes.
»Liebes, wir wollen doch kein Aufsehen erregen, nicht wahr?«
Ohne zu zögern wich die Elfenfrau zurück. Ich bekam zitternde Knie, als nun der Weihnachtsmann auf mich zuschritt. Der fehlende Bart irritierte mich. Seine Augen waren von einer solch dunklen Tiefe, dass ich Angst bekam, hineinzufallen. Die rote Kapuze des Umhangs umrandete das Gesicht dieses doch allseits bekannt gütigen Mannes auf eine Weise, dass es geradezu furchterregend aussah. Als würde sich hinter dem Gesicht gar nichts befinden. Nichts als die Dunkelheit seiner Augen.
»Ich werde niemandem verraten, dass du hier warst«, flüsterte ich.
Er nickte erhaben. »So ist es Recht, mein Kind. Dein Wunsch sei dir gewährt, doch höre: an dem Tage, an dem auch nur eine Seele von dem erfährt, was du heute gesehen hast, wirst du sterben. Und nun sein artig und lauf nach Hause.«
Sofort drehte ich mich um und eilte nach Hause wie der Wind.
In den annähernd einhundert Jahren, die dieser Nacht folgten, gab es kaum einen Tag, an dem ich nicht daran zurückdachte. Was wäre geschehen, hätte sie mich geküsst? Wer waren sie wirklich? Hat dieses Ereignis überhaupt stattgefunden, oder entsprang es kindlicher Fantasie? Ich wusste, dass ich nie eine Antwort auf diese Fragen bekommen würde. Es gab nur einen einzigen Weg, meinem Verstand die Klarheit zu geben, die er brauchte. Und mit jeder Zeile, die ich nun schreibe, erlange ich mehr Gewissheit. Das Leben verlässt mich, ich spüre es. Kälte kriecht in meine Fingerspitzen. Sie durchzieht mich Millimeter um
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