24 kurze Albträume (German Edition)
ich mit dir rede. Und steh’ nicht einfach so da.« Die durchdringende Stimme stach in sein gepeinigtes Gehirn. Er wollte diese Stimme nicht hören, er wünschte, er könne sie abstellen, sie ein für alle Mal ausmerzen, sie zum Schweigen bringen. Er wollte … dieses Licht! Er ersehnte diese Berührung mit dem Nebel, die ihm Frieden versprach. Doch etwas hielt ihn davon ab, in diese stille Welt einzutauchen, jemand zerrte an seiner Schulter und seinen Hosenbeinen.
Er versuchte dieses unangenehme Zerren zu verdrängen, wollte einfach nur hinaus in den sanften Nebel. Hinein in diese wallenden Dunstschleier, die ihm Glückseligkeit verhießen – ihn lockten, ihn magisch anzogen. Gestalten formten sich nun darin. Da war … ein Mann mit einer Axt, der ihm zuwinkte. Ein Anderer mit einer Schrotflinte vollführte eine einladende Geste. Eine Frau mit einem Tablettenröhrchen in der Hand lächelte ihn an und entblößte ihre Brüste. Viele Gesichter erschienen dort im Dunst - alle freundlich, zugewandt. Sie wünschten ihn in ihrer Mitte, denn er gehörte zu ihnen. Nebelschwaden drangen durch die durchlässig gewordene Fensterscheibe ins Innere des Zimmers, umschmeichelten ihn, krochen an seinem Körper empor. Weich und kühl. Sanft spürte er sie auf seiner prickelnden Haut.
Die quälenden Stimmen waren jetzt fast völlig verstummt.
Nur dieses unablässige Ziehen und Zerren erinnerte ihn daran, dass ihn etwas zurückhalten wollte. Ein Ärgernis. Ein letztes Hindernis, das einfach nur beseitigt werden musste.
Der Nebelschwaden hatte nun seine Hand erreicht und formte in ihr ein Gebilde. Es schien ein metallener Gegenstand zu sein, den er fest umschloss. Er verschmolz mit ihm zu einer untrennbaren Einheit aus Körper und Nebel. Es gab ihm Kraft, Fesseln zu lösen, die ihn hier und jetzt noch hielten. Er schwebte. Er tauchte in den Nebel ein …
»Da hat jemand seine Alte und den Sohn abgestochen. Mit einem Marmeladenmesser …« Gerd Radtke sah seine Frau nicht an, während er die Zeitung studierte.
»Ohne jedes Motiv. Und … die Zungen `rausgeschnitten«, fügte er hinzu und gab seiner Tochter, die gerade etwas Milch über die Tischdecke gekleckert hatte, einen gereizten Nackenschlag. Dem kleinen Mädchen traten Tränen in die Augen. Seine Frau bedachte ihn mit einem bitterbösen Blick und nahm ihr Kind tröstend in den Arm.
»Verwöhn’ die Göre nicht so«, schnaufte Radtke missbilligend. »Sonst wird sie so nachlässig wie ihre schlampige Mutter!«Er wälzte seinen fetten Körper in eine bequemere Sitzposition und kratzte sich umständlich unter einer Achselhöhle. Dann wandte er sich wieder seiner Lektüre zu.
»Abstechen hat ihm wohl nicht gereicht …«
Das kleine Mädchen blickte verängstigt aus dem Augenwinkel zu ihm herüber. Seine Frau erhob sich schweigend, strich ihrer Tochter liebevoll über das Haar und ging zum Fenster.
»Es sieht nach Nebel aus«, murmelte sie versonnen nach einem Blick durch die Scheiben. Fast zärtlich berührte sie das Bügeleisen neben ihr auf dem Bügeltisch …
Sabine Völkel
Puppenmutter
Manchmal überfällt mich die Angst. Meist kommt sie plötzlich und die Auslöser sind so nichtssagend, dass das Aufzählen nicht lohnt. Ich weiß, dass es nicht nur mir allein so geht, das beruhigt und verunsichert mich zugleich. Wenn zwei verschiedene Menschen dieselbe Nichtigkeit beängstigend finden, muss dann nicht tatsächlich ein Schrecken darin liegen?
Da war die Sache mit dem Puppenkopf. Ein Nachbarskind, ein kleines Mädchen, das bei mir gespielt hatte, hatte ihn vergessen. Es war ein seltsames Mädchen, was Puppen anbetraf. Diese hielten bei ihr nie länger als eine Woche, dann lagen sie schmutzig,
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